Editorial Ausgabe 65

thomas-editorial-neuLiebe Leser, während wir uns in NEXUS öfter mal Sorgen über den Fortbestand unserer Zivilisation machen, arbeiten andere schon fieberhaft an einer neuen, virtuellen Welt. Ab Oktober werden die ersten Virtual-Reality-(VR-)Systeme wie etwa Oculus Rift auf den Markt kommen und ab diesem Zeitpunkt erwarte ich eine immer schneller werdende Welle von Veränderungen. Natürlich werden Gaming und Porno wieder die Wegbereiter sein, doch es liegt auf der Hand, dass sehr bald auch andere, ernst zu nehmendere Anwendungen entstehen werden.

Gut gemachte VR ist angeblich schockierend intensiv: Sie schlägt die Nutzer derart in den Bann, dass die meisten schon nach einer Stunde eine Pause brauchen. Doch mittlerweile haben die Entwickler die Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung offensichtlich so gut verstanden1, dass das Nervensystem auf eine nie dagewesene Art „gefüttert“ und überlistet werden kann: Anwender scheinen sich an Erlebnisse im VR-Raum zu erinnern wie an echte Erlebnisse. Sehr bald werden virtuelle Welten ein normaler Bestandteil unseres Lebens sein.

VR wird übrigens nur die eine Hälfte der neuen Welt darstellen: Andere Firmen bereiten derzeit eine verwandte Technik vor, die unter dem Namen „Mixed Reality“ (MR) nur kurze Zeit später verfügbar sein wird, etwa die HoloLens2 von Microsoft, von der erste Entwicklersets bereits ausgeliefert werden. Mithilfe einer semi-transparenten Brille werden hier holografische Bilder auf unsere reale Welt projiziert: Stellen Sie sich einen virtuellen Elefanten vor, den sie mit dieser Technik in Ihrem realen Wohnzimmer sehen können. Dieser Elefant wird dort nicht nur herumstehen, sondern auch reagieren, wenn Sie ihm einen Apfel hinhalten. Die HoloLens wird also eine Überlagerung echter und computergeschaffener Realitäten gestatten, was unter anderem bedeuten könnte, dass wir bald überall in der Welt Hinweise und Einblendungen sehen werden, die andere Leute dort für uns hinterlassen haben, ähnlich wie Graffitis. Straßenzüge und Gebäude werden virtuelle Beschriftungen erhalten, mit Hinweisen, wo was zu finden ist. Werbung in ungeahntem Ausmaß wird auf uns einströmen. Andere Kanäle werden vielleicht die Botschaften von Underground-Künstlern oder Bürgerbewegungen enthalten oder informationsgeladene Erklärungen über die jeweilige Gegend, in der wir uns gerade bewegen. Was ich hier schildere, sind nur die gröbsten Umrisse dieser neuen Realitäten, denn mit Sicherheit werden sich bald noch weitaus interessantere Anwendungen herausschälen. Und dies alles ist, wie gesagt, keine Zukunftsmusik, sondern steht uns unmittelbar bevor.

Natürlich werden durch diese neuen Welten auch neue Gefahren entstehen, von denen wir bisher nur die Umrisse kennen. Und natürlich wird es hundert Gründe geben, all das abzulehnen. Doch machen wir uns nichts vor: Kommen werden diese Dinge trotzdem, ganz egal, wie wir uns dazu stellen. Ich selber entscheide mich daher lieber dafür, diesen Wandel von der ersten Stunde an aktiv mitzumachen. Der Transhumanismus, wie Ray Kurzweil ihn in seinen Büchern extrapoliert, wird – falls wir nicht vorher untergehen – die nächste Stufe unserer Evolution darstellen, da bin ich mir sicher.

Wer dabei nicht zu einem komplett verstrahlten Zombie werden will, wird wahrscheinlich aber lernen müssen, einen Spagat zu machen: Die Computertechnik des 21. Jahrhunderts ist schließlich nicht notwendigerweise kompatibel mit dem, was das biologische Leben auf diesem Planeten zwingend benötigt. Auch in nächster Zukunft werden unsere Körper reales Essen benötigen, gutes Wasser und atembare Luft. Diese Anforderungen werden durch die neuen Welten wohl kaum weniger wichtig werden. Und hier erscheint es mir mehr als fraglich, ob neue Techniken wirklich immer die beste Lösung bringen werden. Manches muss vielleicht nicht neu erfunden, sondern nur neu entdeckt werden. Genau das passiert ja eigentlich schon seit geraumer Zeit: Traditionelle und mythische Methoden des Ackerbaus etwa werden weltweit neu erprobt und erweisen sich gegenüber der industriellen Landwirtschaft als durchaus interessant. Unser Leitartikel dieser Ausgabe schildert dies im Detail. Denken Sie aber auch an neuerdings wieder modern gewordene Methoden der Lebensmittelverarbeitung oder -konservierung, etwa das Fermentieren: Überall entdecken Menschen diese alte Kunst wieder neu, weil die probiotischen Eigenschaften der so transformierten Lebensmittel genau das sind, was unsere von Junkfood geschädigten Mägen brauchen, um Sodbrennen und Verdauungsbeschwerden wieder loszuwerden. Oder denken Sie an Krebs: Ich kann mir zwar vorstellen, dass die neuen virtuellen Räume für Chirurgen oder Entwickler pharmazeutischer Medikamente eine höchst willkommene Präzisierung ihrer Eingriffe und Forschungen darstellen werden. Aber schon jetzt schreien unsere Körper doch nach der alten Weisheit naturverbundener Lebensstile, in denen Zivilisationskrankheiten wie Krebs kaum eine Rolle spielten. Die Herausforderung wird darin liegen, diese beiden Pole unseres Daseins – Natur und Technik – unter einen Hut zu bringen.

Herzlichst

Ihr Thomas Kirscher

1 Jason Jeralds „The VR-Book“ (Morgan & Claypool, 2015) enthält eine ausführliche Schilderung dieser Mechanismen.

2 siehe www.microsoft.com/microsoft-hololens

Kommentare

02. Juni 2016, 13:54 Uhr, permalink

Buntes Papier

Die Technik der VR ist meiner Meinung nach eine große Gefahrenquelle für unsere Gesundheit.
Was passiert auf Dauer mit unseren Augen durch diese Technik? Ich kann dazu kaum Informationen finden. Doch ein Bildschirm so nah an den Augen kann ich mir nicht als besonders gesund vorstellen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Denn obwohl VR den Eindruck von räumlicher Tiefe vermitteln kann, hat das Bild natürlich nicht wirklich eine räumliche Tiefe. Außerdem geben die Displays viel blaues Licht ab, das in großen Dosen schädlich für unsere Netzhaut ist, aber auch auf unseren Biorhythmus einen hohen Einfluß hat.

Es gibt bestimmt in der Technik Aufgabenbereiche, bei der der Einsatz von VR extrem nützlich sein kannn. Doch im privaten Bereich würde ich diese VR-Geräte niemals empfehlen. Zumal sie den Menschen noch weiter von der realen Welt distanzieren könnte. Die Transhumanisten wird es begeistern.

In der VR lebt nichts, sondern das Leben wird nur simuliert.
Das hat eine große Bedeutung für unsere Entwicklung.

Ich hoffe, daß viele Menschen intuitiv erfassen, was wirklich gut für sie ist.
Denn durch die Möglichkeiten der Technik und durch Werbung werden die Menschen
heute mehr denn je beeinflußt und manipuliert und abgelenkt vom realen Leben.

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