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Editorial Ausgabe 101

Daniel Porträt 2022Liebe Leser,

während ich über das Weltgeschehen und unser Titelthema sinnierte, fiel mir ein Buch ein, das ein paar Weichen in meinem Denken gestellt hat: „Der neue Prometheus“ von Robert Anton Wilson. Wilson war einer der intellektuellen Köpfe der 1968er, Anarchist, Psychonaut und Visionär. Seine Bücher und Aufsätze sind so etwas wie die Essenz der Gegenkultur: Die Quantentheorien Wheelers, Bohms und Heisenbergs treffen auf Buddha, Zen-Meister und Sufis, und in seinem mehrdimensionalen Gewebe aus Handlungssträngen geben sich Querulanten wie Joyce, Fuller, Reich, Nietzsche und Crowley die Klinke in die Hand.


Der „Prometheus“ ist als Sachbuch konzipiert und stellt ein Modell unserer Psyche vor, das in den 40 Jahren seiner Existenz kaum Falten bekommen hat: die Theorie der acht Schaltkreise des Gehirns. Es ist ein Blockbild unserer Software, der tiefsitzenden biologisch-psychischen Prägungen des Menschen. Die ersten vier Schaltkreise haben mit unserer evolutionären Vergangenheit zu tun: (1) Beim oralen Bio-Überlebensschaltkreis geht es um Kampf-oder-Flucht-Reaktionen, also die Frage, wo wir uns sicher und geborgen fühlen und wo nicht; (2) der anale gefühlsterritoriale Schaltkreis bestimmt über die Hackordnung und den Besitz – wer der Chef ist und wem was gehört; (3) der zeitbindende semantische Schaltkreis ist Träger der Kultur und der herrschenden Weltsicht; und (4) der moralische, soziosexuelle Schaltkreis, geprägt durch Erziehung und frühe Knutsch- und Bettgeschichten, bestimmt über ethische und sexuelle Vorlieben.

Wilson zufolge sind die meisten von uns im Korsett jener vier Schaltkreise unterwegs, und es ist erhellend, Welt und Selbst durch diese Brille zu betrachten: Der Obrigkeitswahn oder die Fixierung auf „Weltführer“ oder „Experten“ etwa lässt sich als popeliges Rudelverhalten unter der Ägide des Alphatiers deuten, und wenn es mal wieder Bomben hagelt, reflektiert das die animalische Angewohnheit, das eigene Territorium zu markieren. Wilson witzelt daher gern über den „domestizierten Primaten“ – die minimale Version dessen, was wir als Mensch sein können: begrenzt und berechenbar, ein kuschender Roboter, der die kulturellen Vorstellungen des Rudels widerkäut. Im Buch liefert er reichlich Übungen, die einem die eigenen Prägungen ins Bewusstsein rufen – etwa, wenn man mal wieder von Überlebensängsten geplagt ist (Schaltkreis 1) oder seine semantische Landkarte der Welt (Schaltkreis 3) mit der Realität verwechselt.

Interessant wird es bei den nächsten vier Schaltkreisen. Sie sind evolutionär jünger und tauchen bisher nur sporadisch bei Vertretern unserer Spezies auf, künden aber von den nächsten Stufen der menschlichen Entwicklung: neurosomatische Verzückung (Schaltkreis 5), Einblicke ins kollektive genetische Unbewusste (6), Metaprogrammierung der eigenen Realität (7), nichtlokales Bewusstsein und Einheitserfahrungen (8) – Dinge also, von denen Sie regelmäßig im NEXUS lesen.

Aus Sicht der höheren sind die unteren vier Schaltkreise bloße Kinderschuhe – willkürliche Grenzen, gezogen von Überlebensangst, missglückten Prägungen und automatisierten Normen.

Einige meinen ja, dass wir vor einer kosmischen Durchbruchserfahrung stehen, und auch die Schaltkreistheorie lässt sich dahingehend deuten: Bevor sich der nächste Schaltkreis öffnet und die Psyche in einer höheren Ordnung aufgeht, stürzt die eigene Weltsicht zusammen. Alles wird hinterfragt, alte Überzeugungen brechen auf, man strauchelt, zappelt, erklimmt ein neues Niveau und fällt wieder in alte Muster zurück.

Sicher ist, dass der Krisenkochtopf Erde gerade mächtig blubbert: Finanzsystem, Lebensmittelversorgung, Regierungs- und Staatsformen, Migrations- und Identitätsfragen, Erdveränderungen – alles steht auf dem Prüfstand. Die große Frage ist: Werden wir diese Problemstellungen auf den unteren vier Schaltkreisen lösen und die alten Muster widerkäuen, oder bekommen wir die höheren Schaltkreise implementiert? Kampf oder Flucht scheint mir jedenfalls eine genauso automatisierte Lösung wie Kontrollzwang oder Expertenkult, und mein Ohrläppchen zittert, wenn mir mal wieder jemand „die ganze Wahrheit“ oder „alternativlose Lösungen“ präsentiert. Ich halte mich da lieber an eine menschliche Fähigkeit, die ich in den höheren Schaltkreisen verorte: Kreativität.

Die stecke ich derzeit zum Großteil in dieses Magazin, denn wenn ich mich nicht gerade mit schnöden Steuererklärungen und Softwareproblemen herumschlage, bin ich eifrig am Brüten, wie ich weiteren Mehrwert für Sie generieren und das Heft auf die nächste Stufe hieven kann. Für mich heißt das: inhaltlich auch die eigenen Scheuklappen lüften, nicht zu verbissen predigen, offen für schnittige Ideen bleiben, verstärkt Handlungsimpulse setzen und präsenter werden. Ende Juli treffen Sie mich schon mal auf dem Friedensfestival Pax Terra Musica, und womöglich gibt es im Herbst ein paar Vorträge im kleineren Rahmen.

NEXUS soll, ganz im Sinne des Leitartikels, eine Tür bleiben, die ich gern für Sie offenhalte. Natürlich ist das nur möglich, wenn genügend Menschen hindurchblinzeln – daher noch einmal herzlichen Dank an die Käufer unserer digitalen NEXUS-Akten, die wir nach wie vor im Shop anbieten. Neuerdings schicken wir NEXUS auch auf Wanderschaft – falls Sie jemanden kennen, für den das Heft bereichernd sein könnte, oder ein paar Exemplare der aktuellen Ausgabe verteilen oder bei sich auslegen möchten, dann melden Sie sich bitte in der Redaktion.

Frohes Deprogrammieren!

Ihr Daniel Wagner