Nizza: Anatomie eines Anschlags (Teil 1)

NizzaNizza, 14. Juli 2016. In den Abendstunden des französischen Nationalfeiertags macht der radikalisierte Mohamed Lahouaiej Bouhlel mit einem gemieteten Lkw Jagd auf Passanten und rast in eine ausgelassene Menschenmenge. Nur wenige Minuten dauert die zwei Kilometer lange Amokfahrt auf der Promenade des Anglais, dann wird der Täter durch das beherzte Eingreifen der Staatspolizei gestoppt.

Um Mitternacht wusste Nice-Matin41 noch immer nicht, wann der Lkw gestoppt wurde. Geht man von der ersten Infografik aus, dürfte sich die Lokalredaktion mit der falschen Zeitangabe, nämlich 23:00 Uhr, abgefunden haben. In Bezug auf den Beginn geht man im Hauptartikel42 richtigerweise von „kurz nach 22:30 Uhr“ aus, die Infografiken wurden dahingehend aber nicht (mehr) aktualisiert und tragen deshalb zur Verwirrung bei.

Sie sehen also, dass auch eine Lokalzeitung mit einem Journalisten vor Ort nicht in der Lage war, zeitnah ein zusammenhängendes Bild des Geschehens zu präsentieren. Erst mit den Informationen von Behörden und Lokalpolitikern kristallisierte sich langsam ein Narrativ heraus, das sowohl Nice-Matin als auch die anderen Medienhäuser unkritisch, beinahe willfährig übernahmen.

22:35 Uhr – Ende des sogenannten Anschlags

Während die Medienhäuser bei der Startzeit kreuz und quer schießen, haben sie sich für das Ende auf die (falsche) Zeitangabe von „gegen 23 Uhr“ festgelegt. Auch wenn diese Angabe mit den (falschen) Startzeiten einigermaßen Sinn ergibt – richtig ist sie deshalb noch lange nicht.

Bei Reuters heißt es:

„Um etwa 23 Uhr: Bouhlel wird von der Polizei erschossen.“43

Bei FRANCE 24 erfahren wir:

„Ein Lkw ist in Nizza gegen 23 Uhr in eine Menschenmenge gerast, gegen Ende des Feuerwerks.“44

In der FAZ lesen wir im Artikel „Chronologie einer furchtbaren Nacht“:

Kurz vor 23 Uhr: Das Feuerwerk ist seit kurzem zu Ende, die Gäste wollen sich auf den Heimweg machen oder noch in der Stadt trinken, tanzen und feiern. […] 23:00 Uhr: Plötzlich, an einer Kreuzung, tritt der Fahrer [des Lkws] aufs Gas und rast in die Menschenmenge. […] Wenige Sekunden später schießt die Polizei zurück, die Kugeln treffen den Fahrer tödlich und durchlöchern auch das Auto [sic!].“45

Ein wichtiger Augenzeuge ist der in Melbourne lebende Fotograf Sasha Goldsmith, der vom Balkon seines Hotelzimmers das ikonische Foto des mit Einschusslöchern übersäten Lkws am Haltepunkt machte.46 In einem Artikel der australischen Zeitung The Age heißt es:

„Als das Feuerwerk gegen 23 Uhr beendet war, ging die Familie Goldsmith wieder ins Hotelzimmer, um die Koffer zu packen, da sie am nächsten Tag abreisen wollten. ‚Wir konnten noch immer die Musik hören, all die Bands haben gespielt‘, sagte Frau Goldsmith – ‚Und dann wurde es ein wenig leiser, ein wenig unheimlich. Ich dachte in diesem Moment: „Was ist los? Warum hat die Musik aufgehört zu spielen?“‘ Sie ging auf den Balkon, um nachzusehen. ‚Ich hörte ein paar kurze Schreie‘, sagte sie – ‚Und dann kam der Lkw die Promenade herunter und ich dachte: „Das ist ja verrückt, es sind doch wegen der Feier keine Autos hier erlaubt“. Dann bemerkte ich, was der Lkw machte.‘ Frau Goldsmith sagte, es war offensichtlich, dass es kein Unfall war. ‚Es war ein großer Lkw, ein Sattelzug [semi-trailer]‘,sagte sie, ‚Alle drängelten durcheinander [scrambling], wie kleine Ameisen, die vor etwas davonlaufen.‘“47

Fotograf Antoine Chauvel, der ebenfalls ikonische Fotos machte, erzählte in der CBS-Sendung „This Morning“:

„Ich war zu Hause und meine Frau und mein Sohn waren auf der Promenade, um sich das Feuerwerk anzuschauen und um 23 Uhr, als das Feuerwerk zu Ende war, hörte ich Schreie und ich blickte aus dem Fenster und sah rennende Menschen […]“48

Die Panik-Reaktionen der Masse

Es gibt vier kurze Videoclips, die zeigen, wie Besucher der Festivität panisch die Flucht ergreifen und um ihr Leben rennen. Sie wurden von den Medienanstalten beinahe in Dauerschleife gezeigt. Sieht man sich die Aufnahmeorte an – im obigen Plan (Abb. 5) sind sie ganz rechts zu finden – so zeigt sich, dass sie vom Anhaltepunkt des Lkws zwischen neun und 15 Minuten Gehzeit entfernt liegen. Es müssen demnach verschreckte Menschen mehrere Minuten gelaufen sein, um die Zeitangaben zu erklären und dabei Passanten in den Straßen zu warnen, die weder etwas gesehen noch gehört haben. Für gewöhnlich verhält es sich so, dass eine Panikreaktion in der Masse nur kurz anhält. Schließlich läuft keiner, der einen Schusswechsel zu glauben hört, bis zum Nordpol, sondern so weit, bis er sich außerhalb der Gefahrenzone wähnt. Der gewöhnliche Bürger ist, nebenbei bemerkt, längeres Laufen nicht gewohnt. Es ist demnach unwahrscheinlich, dass durch Schüsse aufgeschreckte Menschen die Strecke durchliefen und nicht bereits vorher Schutz in umliegenden Restaurants, Bars und Hotels suchten.

Hier eine Chronologie ausgewählter Meldungen, die zwischen 22:30 Uhr und 23:00 Uhr auf twitter gemacht wurden und die im Zusammenhang mit dem Ereignis in Nizza stehen:

22:40 Uhr – Panik! – Hörensagen! Es erscheint die erste Meldung von @LoreVonRo auf twitter, dass in Nizza etwas „passiert sein muss, weil Leute laufen und schreien und es nach Feuer riecht“.
Der Ort ihres kurzen Videoclips dürfte die Esplanade Georges Pompidou sein, direkt bei der Rue l’Opéra. Der dazugehörige Text, getwittert um 22:45 Uhr, „Shooting or truck crashing people (?)“,ist äußerst interessant, da dieser eine Schießerei im gleichen Atemzug mit einer Lkw-Amokfahrt nennt. Zu diesem frühen Zeitpunkt hatte noch niemand solch eine Meldung gemacht. Woher diese Informationen stammen – gesehen und gehört dürfte es die Dame ja nicht haben – bleibt rätselhaft. Man kann davon ausgehen, dass es vorbeilaufende Passanten waren, die ihr diese bruchstückhaften Informationen zuriefen.

22:41 Uhr – Panik! – Hörensagen! Im Lokal TRY Burger ist auf den Überwachungskameras49 eine Menschenmenge zu sehen, die in das Restaurant stürmt. In einem Interview gibt ein Paar an, dass es ins Lokal gekommen sei, weil jemand gesagt hätte, jemand hätte geschossen. Das Lokal in der Rue l’Opéra ist ca. neun Gehminuten (ca. 750 Meter) vom Anhaltepunkt des Lkws entfernt. Die Panikreaktion fand somit fünf Minuten nach dem Ende statt.

22:42 Uhr – Lkw! – Hörensagen! @WCIMT twittert als erster, dass auf der Promenade des Anglais ein Lkw in die Menge gerast sei. Auf die Frage, woher er das denn wisse, gibt @WCIMT die folgende kryptische Antwort [22:46 Uhr]:

„Meine Freundin, die im Élysée-Palast [Marriott Hotel] ist, hat gesehen, wie ein Lkw in die Menge gerast ist; ich bin auf dem Massena-Platz und habe zwei Detonationen gehört.“

Das Hotel Elysée Palace steht nicht direkt an der Promenade des Anglais, sondern in der zweiten Reihe und ist ca. 100 Meter vom Gehstreifen der Promenade entfernt.

22:42 Uhr – Panik! – Ahnungslosigkeit! – Auf twitter schreibt @karhiak:

„Verdammt noch mal?! Leute rennen und die Polizei sagt, man soll hinein gehen.“ [22:45 Uhr] „Überall Polizei, Krankenwagen. Leute in Panik. Was ist da los in Nizza?“ [22:45 Uhr] „Ist McDonald’s wirklich ein guter Platz, um sich zu verstecken? Vielleicht nicht, aber zu ängstlich, um rauszugehen. Was ist da los, verdammt noch mal?“ [23:00 Uhr] „Sie sagten uns, wir sollen in der McDonald’s-Filiale in den oberen Stock gehen, Türen sind versperrt. Ich hörte, dass jemand Feuerwerkskörper auf Leute abfeuerte.“ [23:51 Uhr] „Weiß wirklich nicht, was da passiert. So konfus alles.“

22:44 Uhr – Panik! – Ahnungslosigkeit! – Videoclip „l’Opera“ von @yvnnick: „Ich bin in Nizza, da gibt es Bewegung in der Menge, weiß nicht wieso.“ Die Aufnahme entstand bei der Oper von Nizza in der Rue Saint-François de Paule, eine Parallelstraße zum Quai des États-Unis, ca. neun Gehminuten (750 Meter) vom Haltepunkt des Lkws entfernt. Die Panikreaktion fand neun Minuten nach dem Ende der Amokfahrt statt.

22:44 Uhr – Terror! – Auf twitter schreibt die BILD-Reporterin Anna Kessler (@annikri): „terror nizza. right now. im negresco in sicherheit gebracht.“ Um welche Art von Terror es sich handelte, erzählte die Reporterin erst zehn Minuten später.

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