Mind Sight: Sehen ohne Augen

mindsightAndy Hilton erlebt es während eines schamanischen Workshops. Er hat die Augen geschlossen, ist in Trance, der Kursleiter tritt von hinten an ihn  heran – und plötzlich sieht er ihn, ganz so, als hätte er die Augen geöffnet. Das Phänomen hat viele Namen: veridikales unmittelbares Sehen (VIS), dermo-optische Wahrnehmung, Mind Sight oder eben Sehen ohne Augen. Die Technik hat eine lange Tradition, die von Yogis über Hellseher bis zum Remote Viewing reicht. Über die Prozesse, die dabei ablaufen, lässt sich spekulieren – viel spannender aber ist, dass man es lernen und praktizieren kann. Kindern soll es besonders leicht fallen.

Als ich 1988 während eines neoschamanischen Workshops tanzte, fiel ich in Trance. Ich sah, wie der Kursleiter Leo hinter mich trat, um uns allen mit seinen Räucherstäbchen Schutz zuzufächeln, doch dann wurde ich hinaus in den Kosmos katapultiert. Was dann geschah – was ich „sah“ und was ich wusste (gnostisch erfasste) –, war eine Gipfelerfahrung, die ich als spirituelle Initiation bezeichnen möchte. Doch das ist eine andere Geschichte. Hier geht es darum, dass ich Leo mit seinen Räucherstäbchensah. Das ist nur ein Detail in diesem Gesamtzusammenhang, doch eines, das mich zum Nachdenken brachte – denn meine Augen waren geschlossen und Leo stand hinter mir.

Paramahansa Yogananda beschrieb etwas Ähnliches, doch weit Größeres und Ausgedehnteres, das er mit offenen Augen erlebte und das ihm seine (erste) Erfahrung mit „kosmischem Bewusstsein“ bescherte:

„Meine ganze Umgebung lag offen vor mir. Mein frontales Sehvermögen hatte sich zu einem weiten sphärischen, alles wahrnehmenden Sehen gewandelt. Durch die Hinterseite meines Kopfes sah ich Menschen, die in weiter Entfernung die Rai-Ghat-Straße entlanggingen, und ich bemerkte eine weiße Kuh, die sich gemächlich näherte. Als sie vor dem offenen Tor des Ashram angekommen war, beobachtete ich sie mit meinen physischen Augen weiter. Selbst als sie hinter einer Mauer verschwand, konnte ich sie weiterhin sehen.“1

Auch Menschen, die eine Nahtoderfahrung (NDE / NTE) oder außerkörperliche Erfahrung (OBE / AKE) durchlebt haben, berichten mitunter von einer 360-Grad-Sicht. Sie können nicht nur durch Wände hindurchsehen, sondern sich auch hindurchbewegen – meistens durch Zimmerdecken. Wie die Psychologen Kenneth Ring und Sharon Cooper festgestellt haben, stammen viele wahrheitsgetreue Schilderungen solcher Seherfahrungen von Menschen, die überhaupt nicht sehen können:

„Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass blinde Menschen während einer Nahtod- oder außerkörperlichen Erfahrung visuelle Wahrnehmungen haben, die sowohl Dinge aus der irdischen Welt als auch aus jenseitigen Welten betreffen. Die Beschreibungen sind häufig klar und detailliert, auch wenn sie von Menschen stammen, die von Geburt an blind sind.“2

Was geht hier vor sich? Offenbar ist es tatsächlich möglich, im Hier und Jetzt und unabhängig von der jeweiligen Umgebung ohne Augen zu sehen – sei es aus einer 360-Grad-Perspektive, durch Dinge hindurch oder als Blinder. Auch wenn die Umstände persönlich vielleicht als exotisch empfunden werden, handelt es sich doch um eine gewöhnliche visuelle Wahrnehmung, die keinen außergewöhnlichen Auslöser benötigt. Tatsächlich ist das veridikale (wahrheitsgetreue), unmittelbare Sehen ohne Augen eine Fähigkeit, die wir grundsätzlich alle erlernen und entwickeln können. Ich füge hier „grundsätzlich“ ein, weil das Erlernen, vor allem für Erwachsene, schwierig sein kann und nicht bewiesen ist, ob wirklich jeder dazu in der Lage ist. Es bedürfte hier beispielsweise weiterer Forschungen über Aphantasie, die Unfähigkeit, willkürlich mentale Bilder zu erzeugen. Doch im Allgemeinen muss diese Fähigkeit lediglich stimuliert und gefördert werden, idealerweise schon früh im Leben.

Die meisten Menschen, die diese Art des Sehens erlernen, beginnen damit, ihre Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die vor ihnen platziert werden, beispielsweise farbige Karten, gedruckte Symbole oder die eigenen Hände. Man kann aber auch weit entfernte oder jenseitige Dinge versuchen wahrzunehmen oder schon früh lernen, nach hinten zu sehen. Doch das ist nicht die übliche methodische Vorgehensweise – denn das Sehen ohne Augen soll von den bekannteren Varianten Hellsehen und Remote Viewing (RV) abgegrenzt werden. Lässt man allerdings die unterschiedlichen Erwartungen (das angestrebte Ziel) und die konkrete Technik (sowie diverse andere Umstände, wie gesellschaftliches Umfeld oder Weltanschauung) außer Acht, kann man durchaus ein und denselben Mechanismus für alle diese para­normalen Sehphänomene und der außersensorischen Wahrnehmung (ESP / ASW) zugeordneten Sehmodalitäten verantwortlich machen. Die Grenzen sind ohnehin fließend: Remote Viewer erforschen mithilfe ihrer Protokolle vielleicht auch unsichtbare oder „esoterische“ Ziele, während Hellsichtige, die mit Verstorbenen kommunizieren wollen, ganz nebenbei noch im Raum-Zeit-Gewebe nahegelegene Ereignisse der realen Welt wahrnehmen. Man beginnt vielleicht, ohne Einsatz der Augen gewöhnliche Dinge in Echtzeit zu sehen, und geht dann zu nicht materiellen oder entfernten Dingen über … doch, wie gesagt, ist das weder der Ausgangspunkt noch das Hauptziel. Zur Abgrenzung wurde der neologistische Begriff veridikales unmittelbares Sehen (veridical immediate seeing, VIS) geprägt.

Da VIS wie normales Sehen funktioniert, lassen sich auf verlässliche und replizierbare Weise Psi- und ESP-Phänomene unter Laborbedingungen nachweisen. Somit wird diese Art des Sehens zu einem spannenden Brückenkopf in der ständigen Auseinandersetzung mit Skeptikern und dem Materialismus an sich. Für VIS gibt es zahlreiche Einsatzmöglichkeiten – einige davon sind bereits weit ausgereift, andere gerade einmal angedacht. Ganz offensichtlich liegt hier eine Möglichkeit, Sehbehinderungen auszugleichen, denn wenn blinde Menschen ihre VIS-Fähigkeiten entwickeln, lernen sie zu sehen.

Erste Überlegungen

Wir wissen bereits, dass Photonen alleine nicht ausreichen, um Sehen zu ermöglichen. Die biologischen, chemischen und physischen Voraussetzungen für diesen Vorgang können in etwa mit der Mechanik einer Kamera verglichen werden. Fotorezeptoren – Stäbchen und Zapfen in einem Fall, chemische Reaktionen bzw. elektronische Signale im anderen – verwenden Energie aus oxidierten Nährstoffen oder elektrischen Batterien, um Lichtwellen in Bilder in der Retina oder auf Zelluloid bzw. in Pixel umzuwandeln. Diese Bilder werden sodann erneut über neurale Pfade oder chemische Verarbeitung / Leiterplatten umgewandelt und bewegt. Ziel ist jeweils das Speichern oder Abrufen in Form neuronaler Erfassung und synaptischer Verbindungen oder in Form von Fotografien oder Dateien. Doch Kameras können nicht sehen!

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