Verwobenes Leben – Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen

pilzePilze sind allgegenwärtig – in uns, um uns –, aber für unsere Augen meist unsichtbar. „Sie fressen Gestein, produzieren Erde, verdauen Umweltgifte, ernähren und töten Pflanzen, überleben im Weltraum, erzeugen Visionen, produzieren Nahrung, stellen Medikamente her, manipulieren das Verhalten von Tieren und haben Einfluss auf die Zusammensetzung der Erd­atmosphäre“, gibt Merlin Sheldrake in seiner Einleitung den Parcours durch sein Forschungsgebiet vor.

Das ist in doppelter Hinsicht spannend:

Zum einen lernt man viel über Pilze – von Trüffeln, Flechten, Zauberpilzen, Mykorrhiza-Pilzen, Zombie-Pilzen, die Ameisen befallen, über die Heimzucht von Pilzen, die auch auf Zigarettenkippen wachsen, und natürlich über Hefepilze. Pilze sind Meister der Anpassung und verstoffwechseln so ziemlich alles, was ihr Myzel erreichen kann. Selbst in den strahlenden Atomreaktoren von Tschernobyl haben sich Pilze angesiedelt, die sich von Radioaktivität ernähren. Das allein ist schon faszinierend und unterhaltsam zu lesen.

Zum anderen analysiert Sheldrake, von den konkreten Phänomenen ausgehend, wie Pilze unsere philosophischen Kategorien und Vorstellungen durcheinanderbringen, zuweilen auch auflösen. Das ist Wissenschaftsphilosophie, ganz lebendig, praxisnah und offen. Wenn er sich durch den Dschungel gräbt, um das Myzel eines Pilzes zu verfolgen, und scheitert, weil Pilze keine klar definierbaren Grenzen haben, dann kommen basale Vorstellungen unseres Weltbildes wie der Identitätsbegriff ins Wanken. Was genau untersucht man dann eigentlich im Labor unter kontrollierbaren Bedingungen – und ist es das Gleiche wie das „Wood Wide Web“?

Sheldrake hat mit vielen Forschern gesprochen – diese fachlichen und wissenschaftstheoretischen Diskussionen sind Goldstaub fürs Gehirn. Das Tier- und Pflanzenreich ist vergleichsweise gut erforscht; Pilze, die daneben ein eigenes Organismenreich bilden, bieten dagegen noch Angriffsfläche für Pioniere und Freigeister. Denn was Pilze sind und wie sie leben, können wir höchstens in Metaphern fassen – Denkbildern, die aufgeladen sind mit unseren Vorstellungen der sichtbaren Wirklichkeit. Im Falle des Pilzmyzels und seiner Verknüpfungen und Verflechtungen von einem Netzwerk zu sprechen, blendet genauso viel aus wie von einer Symbiose zu reden.

Sheldrake schafft es, diese Ungewissheit sachlich, aber ergebnisoffen zu diskutieren, um den Blick für die ungeklärten Phänomene offenzuhalten. Wer oder was denkt da zum Beispiel, wenn Pilze Probleme bei der Futtersuche lösen und offenbar Entscheidungen treffen können, obwohl sie biologisch nichts in sich tragen, was einem Nervensystem vergleichbar wäre? Sind diese hirnlosen Entscheidungen trotzdem Denken – oder denken wir unser Denken einfach nur sehr eingeschränkt?

Wenn man über Pilze sinniert, beginnt die Welt anders auszusehen, das vertraute Bild wird durcheinandergewirbelt und wir lernen wieder, angesichts der Vielfältigkeit des Lebens zu staunen.

Sheldrakes Parcours führt querfeldein durch die unbekannte Welt der Pilze. Er teilt Mikroskop, Grabschaufel, Laborausrüstung und Trüffelhund genauso mit seinen Lesern wie die Reflexionen über seine eigenen Selbstversuche oder die Thesen der Evolutions- und Wissenschaftstheorie. Zwar bietet er keine griffigen Antworten auf alle großen Fragen der Pilzforschung, regt aber auf jeden Fall zum Selberdenken an.

Schön, dass es noch solche wachen Forscher gibt – und in Sheldrakes Fall möchte man hinzufügen: auch etwas exzentrisch. Immerhin ist er auf die Idee gekommen, sein eigenes Buch mit Austernpilzen zu besiedeln und dann zu essen, und ein anderes Exemplar zu Bier zu vergären und zu trinken. Da haben seine Eltern etwas richtig gemacht.

Merlin Sheldrake
Ullstein

443 Seiten
ISBN: 978-3-550201-10-3
€ 29,–

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