Der vierte Aggregatzustand des Wassers

Wasser könnte neben den Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig noch eine vierte Zustandsform besitzen; eine Exklusionszone, die dickflüssiger, stabiler und geordneter als normales Wasser ist. Angeregt durch russische Studien zu Polywasser und das hinlänglich bekannte Kristallgitter von Eis entwickelten Wissenschaftler ein Modell gestapelter Wasserlagen.

Wasser könnte neben den Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig noch eine vierte Zustandsform besitzen; eine Exklusionszone, die dickflüssiger, stabiler und geordneter als normales Wasser ist. Angeregt durch russische Studien zu Polywasser und das hinlänglich bekannte Kristallgitter von Eis entwickelten Wissenschaftler ein Modell gestapelter Wasserlagen.

Anm. d. Red.: Der vorliegende Artikel ist ein überarbeiteter und gekürzter Auszug aus dem vierten Kapitel von Gerald H. Pollacks Werk „The Fourth Phase of Water: Beyond Solid, Liquid, and Vapor“ (Seattle, WA: Ebner & Sons Publishers, 2013; dt.: „Wasser – viel mehr als H2O“, Kirchzarten: VAK Verlags GmbH, 2015). Aus Platzgründen war es uns nicht möglich, den gesamten Text mit Endnoten und allen Abbildungen abzudrucken.

Ich erinnere mich noch, wie ich als Student im ersten Semester – im finsteren Mittelalter des Jahres1957 – die Aufregung miterlebte, die durch den Start des ersten Weltraumsatelliten der Welt ausgelöst wurde. Sputnik war sowohl eine überragende Leistung als auch ein sowjetischer Coup, der die USA unvorbereitet traf – was sich in dieser angespannten Ära des Kalten Kriegs unheilvoll anfühlte. Wachgerüttelt von diesem sowjetischen Meisterstück, reagierte die US-Regierung, indem sie wissenschaftliche Forschung und technische Entwicklungen massiv zu fördern begann. Für sie war Sputnik eine Blamage, die sie kein zweites Mal zulassen durfte.

Doch nur ein Jahrzehnt später schien eine neuerliche Schmach kurz bevorzustehen. Dieses Mal war das Problem allerdings weniger „abgehoben“: kein Satellit war der Grund, sondern die Wasserwissenschaft. Die Russen hatten erneut zugeschlagen und allem Anschein nach einen neuen Aggregatzustand des Wassers entdeckt. Russische Wissenschaftler hatten Wasser in enge Kapillarröhrchen gegeben und festgestellt, dass sich die Eigenschaften des Wassers drastisch änderten. Es verhielt sich nicht mehr wie eine Flüssigkeit, war aber auch zu keinem Festkörper geworden. Für eine Weile sah es so aus, als handle es sich um einen authentischen neuen Aggregatzustand.

Eine Grundlehre der Chemie lautet, dass Wasser drei Aggregatzustände (oder Zustandsformen) hat: fest, flüssig und gasförmig. Die russischen Forschungsergebnisse deuteten nun auf einen vierten Aggregatzustand hin – oder zumindest etwas, das eindeutig anders als die übrigen drei Zustandsformen war. Gemäß den zuvor [in Kapitel 3, Anm. d. Red.] beschriebenen experimentellen Ergebnissen nimmt Wasser in der Nähe von gewöhnlichen hydrophilen Oberflächen andere Eigenschaften an: Wasser in dieser Exlusionszone (EZ) ist dickflüssiger, stabiler und geordneter als normales Wasser. Zwar entsprechen diese Eigenschaften nicht ganz dem, was die Russen gefunden haben wollen, doch scheinen die Charakteristika der EZ ihnen zu ähneln – stark genug, um den Verdacht zu erwecken, dass ihre Forschungsergebnisse teilweise mit unseren übereinstimmen könnten.

Zuerst wollen wir uns noch einmal ansehen, was die Russen tatsächlich entdeckt haben, und einen Blick auf die internationalen Machenschaften werfen, die diese Forschungsergebnisse begleiteten. Dann widmen wir uns der Frage, welche nützlichen Lehren wir aus dem damaligen Debakel ziehen können. Schließlich richten wir unser Augenmerk auf die Exklusionszone: Ist die EZ ein einfacher, organisierter Stapel aus Wassermolekülen, oder hat sie eine andere, kristallartige Ordnung? Stellt die Struktur tatsächlich einen vierten Aggregatzustand des Wassers dar?

Das Polywasser-Debakel

Die russische Geschichte begann, als ein bis dahin unbekannter Wissenschaftler namens NikolaiFedyakin entdeckte, dass Wasser unter bestimmten Umständen überraschend stabil werden konnte: Es wurde genauso schwierig, das Wasser einzufrieren wie es zu verdampfen. Außerdem schien es dichter und dickflüssiger als normales Wasser zu sein. Begeistert von dieser ungewöhnlichen Stabilität, präsentierte Fedyakin seine Ergebnisse dem führenden physikalischen Chemiker der Sowjetunion, Boris Derjagin. Dieser war beeindruckt genug, um einen ganzen Kader an Wissenschaftlern in Bewegung zu setzen.

Derjagin wusste, dass Kapillarröhrchen nicht die einzigen möglichen Materialen waren, die mit Wasser interagierten. Jedes beliebige Material, das mit Wasser in Berührung kommt, tritt mit ihm in Verbindung – von einem Glas mit Trinkwasser bis hin zu Proteinen in einer Zelle. In all diesen Nahtstellen bildet sich „Grenzflächenwasser“, das sich möglicherweise ebenso stabil wie das Wasser in den Kapillarröhrchen verhält. Natürlich wusste Derjagin, was auf dem Spiel stand: Die Enträtselung dieses einzelnen Phänomens könnte den Schlüssel zum Verständnis eines großen Teils der Natur liefern.

Er begann, das Phänomen sorgfältig zu erforschen. Um die Reinheit des in seinen Experimenten verwendeten Wassers zu gewährleisten, ließ er es zuvor in penibel gereinigten gläsernen Kapillarröhrchen verdunsten und anschließend kondensieren. Es war dieses allem Anschein nach reine Wasser, das solch bemerkenswerte Stabilität aufwies. Doch genau dieser Aspekt – die Reinheit – sollte seinen Forschungen letztlich das Genick brechen.

Obwohl Derjagins Arbeit der russischen Allgemeinheit Mitte der 1960er Jahre bereits hinlänglich bekannt war, wurde man im Westen erst später darauf aufmerksam. Bald kam es zu Folgeuntersuchungen in den USA und Großbritannien.

Es sollte nicht lange dauern, bis sich die halbe Welt für das besondere Wasser zu interessieren begann. Selbst die Presse wurde darauf aufmerksam und kolportierte mit ihrem notorischen Hang zum Sensationalismus eine besorgniserregende Theorie: Ein in den Ozean geworfener Fingerhut voll dieser Substanz sollte sich wie ein Impfkristall ausbreiten können und so den gesamten irdischen Wasservorrat in einen massiven Klumpen polymerisieren, der für den Konsum unbrauchbar wäre.

Nach diesem schockierenden Märchen, das nur in Zeiten des Kalten Krieges geschrieben werden konnte, war man erleichtert, als sich dieses polymerartige Wasser – auch „Polywasser“ genannt – als experimenteller Fehltritt entpuppte. Bei der Wiederholung der Experimente entdeckten westliche Wissenschaftler, dass das Wasser Spuren von Siliziumdioxid enthielt, das anscheinend von den Wänden der umgebenden Quarzglaskapillaren herausgelöst worden war. Demnach war das Wasser also doch verunreinigt. Zwar ist so gut wie ausgeschlossen, dass Wasser in großen Bechergläsern bedeutende Konzentrationen des Behältermaterials enthält, doch hatten es die Wissenschaftler hier auch mit extrem engen Röhrchen zu tun. Röhrchen, bei denen das Verhältnis zwischen Oberfläche und Inhaltsvolumen groß genug war, um die Konzentration an Siliziumdioxid innerhalb des Wassers über ein unbedeutendes Niveau hinaus zu erhöhen – sie lag in der Tat über der Detektionsschwelle. Offensichtlich hatte sich etwas Siliziumdioxid gelöst und war ins Wasser gelangt; und nachdem die Verunreinigung aufgezeigt worden war, hatten die Sowjets den (mit Siliziumdioxid angereicherten?) Salat.

Später verkündete ein westlicher Wissenschaftler schadenfroh, dass man polywasserartige Eigenschaften beobachten kann, wenn man reinem Wasser Salz hinzufügt – womit er andeuten wollte, dass die russischen Ergebnisse möglicherweise durch sommerliche Schweißbildung zustande gekommen waren. Rund um den Globus war schallendes Gelächter zu vernehmen.

Derjagin selbst besiegelte das Schicksal von Polymerwasser, indem er letztlich einräumte, dass sein Wasser tatsächlich verunreinigt gewesen war. Mit diesem öffentlichen Eingeständnis konnte die weltweite Wasserversorgung am Ende wieder als sicher gelten, die drohende Gefahr der polymeren Verfestigung war abgewendet – Fall abgeschlossen. Die Entlarvung von Polywasser war zur Antwort der USA auf den Sputnik-Coup geworden. Dieses Mal waren die Russen blamiert.

Den vollen Artikel finden Sie in Ausgabe 61.

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