Die Epigenetik des Autismus: Ursachenforschung zu einer grassierenden Entwicklungsstörung

Autismus 62Weltweit steigen die Autismusraten in alarmierendem Umfang an. Einige Untersuchungen liefern Hinweise darauf, dass die Krankheit eine transgenerationale Reaktion auf Umweltfaktoren sein könnte, bei der bestimmte Gene, die mit der Regulation des Neurotransmitters GABA in Verbindung stehen, spezifisch an- oder abgeschaltet werden. Stark erhöhte GABA-Werte im Hirnplasma wiederum werden mit der anormalen Entwicklung von Axonen im Corpus callosum in Verbindung gebracht, wie sie bei Autismus beobachtet werden.

Autismus ist eine komplexe genetische Störung. Sie ist charakterisiert durch erhebliche Verhaltensauffälligkeiten sowie soziale und kommunikative Beeinträchtigungen. Diese können bei der autistischen Person eine ernste Schädigung sozialer Beziehungen einschließen, verspätete oder gestörte Sprachentwicklung sowie repetitives bzw. ritualisiertes Spiel und Interesse. Autismus tritt vor Beendigung des dritten Lebensjahrs auf. Die oben beschriebenen Symptome setzen sich gewöhnlich über die gesamte Lebenszeit der Betroffenen fort. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung ist definiert durch eine anormale und gestörte Entwicklung, die vor dem Ende des dritten Lebensjahres beobachtet wird. Autismus trifft Männer in der Bevölkerung häufiger als Frauen, das Verhältnis liegt bei etwa 4:1.1 Autismus wird gewöhnlich mittels klinischer Überwachung und unter Verwendung der DSM-5-Kriterien diagnostiziert. Bis heute ist keine Heilmethode bekannt.

Vor etwa 15 Jahren lag die beobachtete Häufigkeit von Autismus in den USA bei einer von 10.000 Geburten und die Krankheit galt als eher selten.2 Vor etwas mehr als zehn Jahren berichtete Cohen über eine Autismusrate von 1:1000 in den USA.1 Unter Verwendung einer breiteren Definition (unter Einschluss aller Entwicklungsstörungen) lag die Häufigkeit des Vorkommens bei einer von 500 Geburten. 2009 gab es Berichte über einen stetigen Anstieg der Autismusrate, die nun bei einer von 150 Geburten in den USA liegen sollte.3 Im Jahr 2014 schätzte das Center for Disease Control and Prevention, dass Autismus in den USA bei einer von 68 Geburten auftrat.4

Umwelteinflüsse auf die Genexpression

In der Forschung hat man nach Umwelteinflüssen gesucht, mit denen die weltweite stetige Zunahme der Autismushäufigkeit erklärt werden könnte. Bisher konnte jedoch kein isoliertes Umweltphänomen identifiziert werden, das mit Autismus in Verbindung gebracht werden und den alarmierenden Anstieg der Krankheit verständlich machen könnte.

Die Epigenetik ist eine neue Forschungsdisziplin innerhalb der Genetik und beschäftigt sich mit jenen Veränderungen des Phänotyps (Erscheinungsbilds) oder der Genexpression, von denen man vermutet, sie seien durch andere Mechanismen verursacht als durch Veränderungen der ihnen zugrunde liegenden DNS-Sequenz. Diese Veränderungen könnten Zellteilungen überdauern und für den Rest des Zelllebens oder sogar über mehrere Generationen hinweg erhalten bleiben. Epigenetik schließt die genetischen Ursprünge von Verhaltensweisen ebenso ein wie den direkten, systematischen Einfluss, den Umweltfaktoren (über längere Zeit betrachtet) auf die Genexpression haben. Obwohl epigenetische Veränderungen nicht die Sequenz der DNS betreffen, haben sie dennoch Einfluss darauf, welche Gene exprimiert werden. Normalerweise aktive Gene können durch epigenetische Veränderungen deaktiviert werden und umgekehrt, was Einfluss auf das Risiko eines Menschen haben kann, Gesundheitsprobleme zu entwickeln.

In zwei grundlegenden Artikeln dokumentierten Kaati et al.5 sowie Pembrey et al.6 Mitte der 2000er Jahre den ersten Nachweis für die Vererbbarkeit von Umwelteinflüssen beim Menschen. Aus den Artikeln geht hervor, dass sich eine Hungersnot zu kritischen Zeiten im Leben von Großeltern auf die Lebenserwartung ihrer Enkel auswirken kann. Den Kern dieser Theorie bildet die Annahme, dass Gene ein „Gedächtnis“ haben und dass die Lebensumstände der Großeltern (die eingeatmete Luft, die aufgenommene Nahrung) direkten Einfluss auf die Gesundheit künftiger Generationen haben können. Die gesundheitlichen Verknüpfungen zwischen Großvater und Enkel und / oder Großmutter und Enkelin waren zwei Generationen danach am deutlichsten erkennbar. So hatten beispielsweise Männer, die im Alter von etwa zehn Jahren eine Hungersnot erlebten, in der männlichen Linie Enkel, die viel länger lebten als diejenigen, deren Großväter Überfluss erfahren hatten. Andererseits hatten Frauen, die im Mutterleib unter Hunger litten, in der männlichen Linie Enkelinnen, die im Schnitt deutlich früher starben. Die Autoren bezeichneten diesen Effekt als transgenerationale Weitergabe.

Bei den hier diskutierten Fragen liefert die Epigenetik eine über die DNS hinausgehende, vollständig neue Ebene des Verständnisses von Genen. Sie nimmt ein „Kontrollsystem“ von Schaltern an, das Gene an- und abschaltet, und legt nahe, dass Einflussfaktoren wie Ernährung und Stress diese Schalter kontrollieren können und erbliche Auswirkungen in Menschen verursachen. Die Epigenetik könnte daher ein nützliches Werkzeug für die Erklärung der weltweit zunehmenden Autismushäufigkeit abgeben.

Umweltfaktoren vergangener Generationen – etwa Atombombentests und -abwürfe während des Zweiten Weltkriegs – könnten mögliche Kandidaten für epigenetische transgenerationale Gesundheitsschäden sein.

Im vorliegenden Artikel wird postuliert, dass eine transgenerationale Reaktion aufgrund einer weltweiten Belastung durch radioaktive Strahlung seit Mitte der 40er Jahre für den beobachteten Anstieg von Autismus etwa 65 Jahre später verantwortlich sein könnte. Es wird ebenfalls postuliert, dass diese Reaktion auf radioaktive Strahlung zwei oder drei Generationen später (analog zu den Studien von Kaati und Pembrey)5,6 deutlicher ausgeprägt sein wird – in Übereinstimmung mit den Daten zur steigenden Autismusrate. Es wird daher die Hypothese aufgestellt, dass die Autismushäufigkeit in künftigen Generationen (z. B. in der vierten, fünften etc.) sinken wird, weil die transgenerationalen Reaktionen abnehmen.

Gesundheitsschäden über Generationen

Einige Artikel in der Forschungsliteratur stützen die Theorie der transgenerational vererbten Gesundheitsschädigungen. Dr. Kinya Nomura beschreibt die Möglichkeit von transgenerationalen Reaktionen bei Mäusen.7 Kamen die Eltern in Kontakt mit Strahlung und Chemikalien, führte das zu einer Vielzahl von Gesundheitsschäden ab der zweiten Generation, z. B. Tumoren, angeborenen Missbildungen und tote Embryonen. Nomura macht außerdem deutlich, dass derartige transgenerationale Gesundheitsschädigungen bei Menschen infolge der Strahlungsbelastung durch die Atombombenexplosionen über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 möglich wären. In einer anderen Untersuchung beschreiben Suskov et al. transgenerationale Gesundheitsschädigungen bei Kindern, deren Eltern radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, und vergleichen sie mit einer Kontrollgruppe aus Kindern nichtbestrahlter Eltern.8

Nadeau zeigt transgenerationale genetische Gesundheitseffekte auf, bei denen genetische Faktoren einer Generation Auswirkungen auf die Phänotypen nachfolgender Generationen haben, ohne dass die Genvariante der Eltern vererbt wurde.9

Eine mögliche Ursache von Autismus

Cohen beschrieb als erster Forscher stark erhöhte Gamma-Aminobuttersäure-(GABA-)Werte in Plasma und Urin sowie hohe Ammoniumwerte im Plasma als mögliche Ursache für Autismus.10 GABA ist ein wichtiger inhibitorischer Neurotransmitter im Gehirn von Säugern und verantwortlich für die Signalvermittlung zwischen Axonen und Oligodendrozyten im Corpus callosum. Das Corpus callosum ist eine quer verlaufende Faserverbindung zwischen den beiden Großhirnhemisphären und zeichnet verantwortlich für Sprache, Sprechen und Intelligenz. Wird das Areal geschädigt, kommt es gewöhnlich zu kognitiven Störungen und einer Verzögerung der Sprachentwicklung. Die erhöhten GABA-Werte in Urin und Plasma könnten daher erklären, warum autistische Merkmale wie selbststimulierendes Verhalten und Sprachentwicklungsstörungen existieren. Sie deuten darauf hin, dass dies möglicherweise in der anormalen Entwicklung der Axone im Corpus callosum begründet ist.1,10,11

Den vollständigen Artikel finden Sie in Ausgabe 62.

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