Psychopharmaka und die Priesterschaft der Gehirnwäsche

Früher Pharmasetzte die Psychopharmaka-Industrie auf Überredung und Glauben, um ihre Diagnosen und Tabletten zu verkaufen. Heute jedoch verfolgt sie, unterstützt von Gesundheitsbehörden und dem neuen Handbuch der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung (APA), eine Strategie von Zwang und Verordnungen, um neue Krankheiten zu erfinden, für die noch mehr Medikamente benötigt werden.

Von der Überredung zum Zwang

Der „psychopharmazeutische Komplex“1– bestehend aus der modernen Psychiatrie, der pharmazeutischen Industrie und dem willig entgegenkommenden aufsichtsbehördlichen Apparat – stützt sich auf den Glauben der Öffentlichkeit an seine medizinwissenschaftliche Expertise und seine durch Marketingmaßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit konstruierte Legitimation. Dank einer Kombination aus stärkerer staatlicher Einmischung in den Medizinsektor durch das amerikanische Affordable-Care-Gesetz, der Veröffentlichung des neuen, erweiterten diagnostischen und statistischen Handbuchs für psychische Störungen (DSM-V, Version 5), das 2013 von der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung herausgegeben werden soll, sowie einem umfassenderen System von bundesstaatlichen Gesundheitsüberwachungsmaßnahmen und biometrischen Identifizierungs-Technologien, zeichnet sich heute bereits ab, dass die von der Psychiatrie aufgestellten Verhaltensnormen und Protokolle mehr und mehr im Alltagsleben durchgesetzt werden. Alles in allem scheint der psychopharmazeutische Komplex entschlossen, sein früheres Paradigma von Überredung und Glauben aufzugeben und sich einer Strategie zu verschreiben, die unter anderem zu Zwang und Verordnungen greift, um ein bestimmtes Ideal von Normalität durchzusetzen.

„Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, die Welt durch sein Denken zu erfassen, im Gegensatz zur Intelligenz, welche man als die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, die Welt mithilfe seines Denkens zu manipulieren. Die Vernunft ist das Werkzeug, das den Menschen zur Wahrheit führt, die Intelligenz ist das Werkzeug des Menschen, das ihn die Welt erfolgreicher manipulieren lässt; erstere ist zutiefst menschlich, letztere gehört zum animalischen Teil des Menschen.“

Erich Fromm

Mit seinen psychotropen Drogen, die in der Öffentlichkeits- und Marketingarbeit seither im Mittelpunkt stehen, glückte dem psychopharmazeutischen Komplex in den 1950er Jahren der große Wurf. Die weite Verbreitung und Verwendung solcher Substanzen gelangen aufgrund des konditionierten kulturellen Gehorsams gegenüber wissenschaftlichem Sachwissen und mithilfe breit angelegter Werbe- und Meinungsbildungsmaßnahmen.

Zwanzig Prozent der Amerikaner nehmen heute mindestens eine Tablette zur Behandlung einer oder mehrerer psychischer Störungen. Bei den Frauen und Kindern unter zehn Jahren hat sich der Konsum zwischen 2001 und 2010 verdoppelt.3 Die Klasse der Antidepressiva, die selektive Serotonin-Wiederauffassungsvermögen-Hemmstoffe (ASWHem) enthalten, wie beispielsweise Zoloft®, Celexa®, Effexor® oder Paxil®, gehört nach Angaben der Zentren für Gesundheitsfürsorge (CDC) zu den am häufigsten verschriebenen Tabletten. Immerhin elf Prozent der über 12-jährigen Amerikaner werden damit behandelt.4

Psychiater und Allgemeinärzte verschreiben großzügig Pharmazeutika, um Krankheiten zu behandeln, die im diagnostischen und statistischen Handbuch für psychische Störungen definiert sind. Dadurch schwingt sich der Stand der Psychiater zur weltweiten Autorität auf, die bestimmt, was unter einer psychischen Erkrankung zu verstehen ist. Psychiater haben eine unüberschaubare Vielzahl von Verhaltensweisen identifiziert, unter die sich tausende von subjektiv gedeuteten Verhaltensanomalien subsumieren lassen. Nach Angaben der CDC empfiehlt die amerikanische psychiatrische Vereinigung die Verschreibung von Antidepressiva für einen Großteil der angeblichen Krankheiten, die unter den Begriff „mäßige bis schwere depressive Symptomatologie“ fallen. Doch hat es, wie der Historiker David Healy anmerkt, das DSM-4

„praktischerweise unmöglich gemacht, die Abhängigkeit von ASWHems, Antipsychotika oder Benzodiazepinen selbst als Krankheit zu definieren“.5

Zwischen 1988–1994 und 2005–2008 stieg der Konsum von Antidepressiva in den USA um nahezu 400 Prozent an.6 Sollte der Konsum weiterhin einer solch steilen Entwicklungskurve folgen, dann würden in den frühen 2020er Jahren bereits zwei von fünf Personen Antidepressiva einnehmen. Der Verkauf von Antidepressiva erreichte in den USA im Jahr 2003 mit 15 Milliarden Dollar Umsatz seinen Höhepunkt. Doch könnten das Ablaufen von Medikamentenpatenten, die Unfähigkeit der Pharmaindustrie an deren Stelle neue „Renner“ auf den Markt zu werfen und die zunehmenden Berichte über die Nutzlosigkeit oder gar Schädlichkeit solcher Medikamente dazu führen, dass der Umsatz bis zum Jahr 2016 auf sechs Milliarden Dollar absackt.7

Das Ansteigen des Antidepressiva-Konsums um das Vierfache macht deutlich, dass „Depressionen“ und die Einführung von ASWHems für die Pharmaunternehmen zweifellos ein wahrer Segen waren und sind. Doch warum Depressionen und Antidepressiva so selbstverständlich ins Denken der Allgemeinheit Einzug halten konnten, ist ein viel seltener hinterfragtes soziales Phänomen.

Pharmaunternehmen üben eine gewaltige Macht auf die Meinungsbildung und den Glauben aus. Dazu bedienen sie sich eines sorgfältig ausgetüftelten Systems von Werbemaßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit, das die oftmals nutzlosen oder gefährlichen Produkte, die sie verkaufen, in den Hintergrund treten lässt.8 Solche Ergebnisse lassen sich erzielen, weil eine kulturelle Neigung besteht, sich Expertenmeinungen unterzuordnen – in diesem Fall denen der Psychiatrie.

Wie man einen Berufsstand konstruiert

2006 führte der investigative Journalist Jon Rappoport eine Reihe von Interviews mit einem hochrangigen Experten für Öffentlichkeitsarbeit, der sich unter dem Decknamen Ellis Medavoy präsentierte. Dieser hatte bei der Koordination und Manipulation der öffentlichen Meinung in Bezug auf große Gesundheitskrisen wie beispielsweise HIV / AIDS eine tragende Rolle gespielt. In seinen enthüllenden Äußerungen machte der PR-Mann deutlich, dass psychiatrische Sachkenntnis im Wesentlichen das Ergebnis von Propagandatechniken ist.

„Problem ist gleich psychische Störung ist gleich Diagnose ist gleich Medikament“, erklärte Medavoy. „Die PR-Aufgabe besteht darin, das zu verschleiern und das Ganze in einen wissenschaftlich klingenden Kontext zu stellen. Dazu streut man noch alles Mögliche über ‚die Forschung‘ mit ein – und schon hat man eine Industrie geschaffen. Genauer betrachtet hat man allerdings eine Priesterschaft der Gedankenkontrolle ins Leben gerufen. Eine offizielle Priesterschaft, eine Priesterschaft mit Lizenz. Auch diese Tatsache vermarktet man, natürlich mit anderen Worten. Man verkauft das im wahrsten Sinne des Wortes. ‚Niemand weiß etwas über die Psyche. Dieses Wissen haben nur die Psychiater.‘ Man verkauft Dinge wie: ‚braucht professionelle Hilfe‘, ‚unterzieht sich einer Behandlung‘, ‚neuer Durchbruch‘ und ähnlichen Unfug. Man verkauft das auf jede nur erdenkliche Art und Weise.“9

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