Editorial Ausgabe 78

Daniel Wagner EditorialLiebe Leser, in der Verschnaufpause zwischen unseren Ausgaben war ich für zwei Wochen in Ägypten unterwegs. Freilich waren die Eindrücke so vielfältig und divergent, dass man einen abendfüllenden Vortrag bräuchte, um diesem Panoptikum gerecht zu werden. Doch ich will Ihnen zwei herausschälen, die mich nachhaltig bewegt haben.

Der erste war eine Erkenntnis, die mich mitten in der Großen Galerie erwischte. Ich stand in diesem muffigen, schummrigen Gang unter dem Kraggewölbe und grübelte über die quaderförmigen Aussparungen an den Rändern: Waren sie wirklich einst mit Kristallen bestückt, mit denen die mächtigste Resonanzwaffe der Welt aufgeladen wurde? 1 Oder standen dort vor Urzeiten die Sockel mit den Ka-Statuen der ersten Mythenkönige, deren Mumien im neu entdeckten Hohlraum die Sintflut überdauerten? Ich versuchte, das Mysterium einzufangen, ein Gespür für das Geheimnis der Pyramide zu bekommen. Doch alles, was ich erhaschen konnte, war … nichts. Kein Kribbeln. Kein Anflug von Ahnung. Nichts. Es war, als würde in diesem Augenblick ein Schleier von mir fallen, in den mich die Spekulationen über das Megabauwerk gehüllt hatten. Völlig nüchtern wurde mir klar: Die alten Ägypter hatten ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen, und so viel wir auch in ihre Hinterlassenschaften hineindeuten – ihr Wissen ist unwiderruflich verloren.

Der zweite Eindruck war schwerer greifbar, aber omnipräsent. Ich spreche von dem Spannungsfeld des Kulturschocks, das sich aufbaut, wenn man im Taxi über die holprige Ring Road in Kairo düst, nur zerbeulte Autos sieht und der Fahrer in Videospielmanier rechts wie links überholt, während er wild hupt. Man parallel am Straßenrand zwei Kinder einen mit Schilf beladenen Eselkarren die Straße hinuntertreiben sieht und allenthalben in einen Gewehrlauf blickt. Und dann von einem Hauswärter angenickt wird, bevor man seine vollklimatisierte und mit Marmorfliesen ausgelegte Unterkunft betritt.

Die Pole dieses Spannungsfelds erschließen sich einem erst Stück für Stück. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte mit dem Wasser: An einem Tag las ich auf Facebook, dass „wir“ es geschafft hätten, mit dem Nestlé-Boykott den Jahresgewinn des Konzerns um 16 Prozent schrumpfen zu lassen – und musste bittersüß lächeln. Denn in meiner Unterkunft zapfte ich mein Trinkwasser aus einem 18-Liter-Bottich der Nestlé-Marke Pure Life, weil das nach Chlor stinkende Leitungswasser ungenießbar war. Aber warum? Nun, die ägyptische Regierung hat es einfach nicht gebacken bekommen, die Trinkwasserversorgung von Kairo zu gewährleisten, und Nestlé bot sowohl das Know-how als auch die Arbeitsplätze, also wurde der Konzern ins Land gelassen. Noch irrer ist, dass die Regierung aufgrund der unlösbaren Trinkwasserprobleme mit IWF-Geldern eine komplett neue Hauptstadt aus dem Wüstenboden stampft, die New Capital. Mir fiel gleich der Economic Hitman John Perkins ein, als während meiner Reise die Spritpreise um 50 Prozent angehoben wurden, weil die Kredite des IWF bedient werden mussten.

Ein anderer Pol dieses Felds wurde mir gewahr, als ich mit einem Guide durch Garbage City fuhr, einen Stadtteil von Kairo, in dem der Müll sortiert wird. Es gab nur eine einzige Zufahrt, und die war so mies, dass unser Auto auf- und abwellte wie ein Kamel. Zu beiden Seiten der Huckelpiste stapelten sich große Müllsäcke, und in den dunklen Lagerhallen wühlten Menschen in undefinierbaren Bergen. Mein Guide warnte mich eindrücklich davor, das Fenster zu öffnen – und als ich ihn dann doch stoppen ließ, um auszusteigen und ein Foto zu schießen, stockte mir der Atem. Nach zwei Sekunden war ich wieder im Auto. Der Gestank war unerträglich. Das Krasse aber war, dass mitten in diesem Gestank Bäcker ihr Fladenbrot auf dem Kopf spazieren trugen, Fleischhälften herumhingen und ein paar Männer Shisha rauchten. Diese Menschen arbeiten nicht nur dort – sie leben da.

Es ist eine mulmige Mischung aus Schaudern und Schulterzucken, aus Wut und Wissen, Demut und Dankbarkeit, die man aus diesem Spannungsfeld mit nach Hause nimmt. Wie im Film lässt man sich im makellosen Wagen regelkonform nach Hause bugsieren, zapft sich ein Glas Wasser aus dem Carbonitfilter und setzt sich ans neue Heft.

Ein Leser hat mich auf unserer Website nach den Resilienzmaßnahmen gefragt, die man ergreifen kann, wenn man weiß, wie fragil unsere eigene Kultur ist. Ich glaube, ein wichtiger Schritt zur Resilienz ist es, dass man sich bewusst in Spannungsfelder begibt und deren Pole auslotet. Als NEXUS-Leser sollten Sie darin ja einige Übung haben – aber wenn Sie sich die volle Dröhnung geben wollen, dann rate ich zu einem längeren Trip in ein Entwicklungs- oder Schwellenland, mitten ins Herz der Widersprüche.

Bis dahin viel Spaß beim Training!

Herzlich

Ihr Daniel Wagner

1 siehe Farrell, J.: „Der Todesstern Gizeh“ (Mosquito Verlag, 2008)

Kommentare

09. August 2018, 10:15 Uhr, permalink

Erik K.

Richtig gut geschrieben. Genau so ging es mir in Indien und z.T. auch in Nepal. Sobald sie auf den westlichen Lebensstil umschwenken - mit Zuckerli verführt oder mit der Pistole auf der Brust - geht es bergab mit ihrem Lebensstandard. Statt auf dem Reisfeld stehen sie dann im Müll, statt Vogelzwitschern nur noch Gestank und Lärm.

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