Homo hapticus: Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können

HomoDr. Martin Grunwald
Droemer HC
304 Seiten
ISBN: 978-3426277065
€ 19,99

Der Experimentalpsychologe Martin Grunwald gilt als Koryphäe seines Fachs – der Haptikforschung. Er beschäftigt sich mit dem Wunder des Berührens und Berührtwerdens. Ein Mensch kann blind oder taub geboren werden und ist dennoch lebensfähig. Auch ein fehlender Geschmacks- oder Geruchssinn bringt das Leben des Menschen nicht in Gefahr. Doch die Erkenntnis, dass ein Mensch ohne Tastsinn nicht überleben könnte, ist eine Überraschung. Ohne Tastsinn, so der Autor, wüssten wir nicht einmal, dass wir existieren.

Der Tastsinn macht uns unsere körperliche Existenz bewusst, denn wir denken uns nicht selbst, sondern wir fühlen uns. Das Tastsinnessystem unseres Körpers ist nach innen und nach außen gerichtet, beginnt schon beim Embryo und begleitet uns unser gesamtes Leben. Dieses System ist das biologisch größte und einflussreichste Sinnessystem und eine wahre Meisterleistung der Natur. Je nach Schätzung verfügt der menschliche Organismus über 710 bis 900 Millionen tastsensible Rezeptoren. Zum Vergleich: Ein Auge hat rund 120 Millionen Stäbchen- und sechs Millionen Zapfenzellen. Pro Ohr sind es gar nur 20 000 Rezeptoren. Die Fähigkeit, Berührungen wahrzunehmen, ist überlebenswichtig, sowohl für uns Menschen als auch für Säugetiere. Findet keine Berührung statt, stirbt man.

Das Buch macht deutlich, in welch vielfältiger Weise das Tastsinnessystem unser Leben und unseren Alltag prägt. Gesichtsberührungen zum Beispiel sind die häufigste Form der Selbstberührung. Wir führen diese 400- bis 800-mal am Tag aus, ohne uns dessen großartig bewusst zu sein. Eine Berührung im Gesicht hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge und schafft emotionales Gleichgewicht. Alltag heißt Berührung. Grunwald beschreibt die verschiedenen Formen der Berührung vom Stadium vor der Geburt als Fötus bis hin zum alten Menschen, die Selbstberührung, die Berührung eines anderen Menschen oder das Streicheln des Haustieres.

Es folgt ein großes Kapitel über Erkrankungen und Störungen des Tastsinnessystems wie Empfindungsstörungen, Muskelstörungen, eine Körperhälfte, die nicht mehr spürbar ist, oder der Super-Gau der extremen Körperschemastörung. Magersüchtige zum Beispiel können unter einer massiven Störung des Tastsinns leiden. Um ihnen zu helfen, werden sie in einen maßgeschneiderten Neoprenanzug gesteckt.

Am Ende des Buches widmet sich Grunwald dem Haptik-Design. Das Wissen über die Haptik, also den Tastsinn, machen sich viele Hersteller von Konsumgütern zunutze. Grunwald berät sie dabei. So wird jeder, der schon mal einen Bierkasten schleppte, festgestellt haben, dass die Griffmulden nun nicht mehr unangenehm in die Finger schneiden. Oder dass thermisch isolierte Griffe an Pfannen und Töpfen heute Standard sind. Bei Gesichtscremes scheint ein Glastiegel eine Creme wertiger zu machen als eine Plastikdose. Der Mensch als „Homo Hapticus“ ist für die Verführungskünste der Produktdesigner ziemlich anfällig, so die Feststellung des Forschers.

In dem Buch geht es um das Verständnis der vielschichtigen Bedeutung von Berühren und Berührtwerden. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung im Sinne der Neurophysiologie. Alle Ausführungen sind sehr verständlich und die Beispiele prägnant. Der Tastsinn hat eine Bedeutung, die weit über die Bedeutungen der anderen Sinne hinausgeht.

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