New Dark Age: Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft

new darkBloß gut, dass ich das Buch nach dem ersten Kapitel nicht aus dem Fenster gehauen habe. Ich hatte vom Rückentext erwartet, hier den „neuen George Orwell“ zu lesen – krampfte mich dann aber durch Absätze voll blubbriger Metaphern, die mir die Lider schwer werden ließen. Dabei ist die Grundfrage, die Bridle stellt, heiß: Was macht die totale Computerisierung und Vernetzung eigentlich mit uns – und wie gehen wir damit um?

Das „New Dark Age“, das neue dunkle Zeitalter, das er verkündet, hat genau damit zu tun: Die technische Totalisierung und Transparenz führt nicht etwa zu einem neuen Zeitalter der Aufklärung, sondern hält uns in einem gigantischen Zerrspiegel die Zerrissenheit der Welt und die ihr eingeschriebene Ungewissheit vor Augen. Alles wird durchleuchtet und ist theoretisch auch durchschaubar, aber die Fülle an Daten und Akteuren macht es so unübersichtlich, dass keiner mehr sagen kann, was hier wirklich los ist.

Man spürt, wie Bridle etwas in Worte zu fassen versucht, das sich einer linearen Analyse entzieht. Alles hängt mit allem zusammen, alles ist dringlich und flackert zwischen Durchknall und Durchbruch: von der Digitalisierung über den Klimawandel bis hin zur KI. Bei allen Themen paddelt er auf der Bugwelle der Zeit, koppelt Internet- mit Vor-Ort-Recherchen und bietet Unmengen an Kuriositäten. Es ist ein neues Erzählen, das ich schon bei anderen Autoren gesehen habe, die mit dem Internet groß geworden sind. Sie ziehen ihre Gedanken nicht mehr auf eine Schnur, sondern bauen Schaukästen voller verdrahteter Vorstellungen. Bei Bridle sind es die Bilder des „Netzwerks“ und der „Cloud“, die sich durch den Text ziehen und dem Leser einen Haltegriff bieten. Doch auch sie fluktuieren, werden durchdacht, zerkaut, verschwimmen. Hängen bleibt dennoch so einiges.

Im zweiten Kapitel „Computerisierung“ erzählt er beispielsweise die Geschichte der ersten Computer und tastet sich dabei – beginnend bei den Wetterbeobachtungen des Philosophen John Ruskin im 19. Jahrhundert – zum später von anderen Vorreitern definierten Ziel voran, mittels immer mehr Daten das Wetter vorhersagen und letztlich kontrollieren zu können. Computer, so führt er anhand ihrer klotzigen Geschichte aus, sind Gestalt gewordenes Sinnbild unseres Versuchs, die Komplexität der Welt in Daten zu packen und sie dadurch beherrschbarer zu machen. Das Bild des Wetters zeigt exemplarisch, was jeder von uns mitbekommen haben dürfte: Wir haben immer mehr Daten zur Verfügung, unzählige Satelliten und Computer sind verknüpft – aber sind die Voraussagen besser geworden? Ich grinse immer nur, wenn meine Frau mir aus dem Smartphone die Wetterprognose vorliest, und schaue lieber aus dem Fenster. Das Wetter illustriert auch eine zentrale These des Buchs: Weder Technik noch Datenhaufen werden uns retten, den Prognosen ihrer Jünger zum Trotz; die Welt wird ungewiss und unsicher bleiben. Das ist ihre Natur. Laut Bridle hilft da nur neu, das heißt vernetzt denken lernen.

Alles hängt mit allem zusammen, das ist schon esoterisch. Und folgerichtig. Letztlich strömen die Technisierung und das Internet ja in jede Ecke, jedes Hirn. Im besten Fall kommt dabei ein erweitertes Weltbild, ein neues Bewusstsein heraus – und auch dessen Eigenschaften spiegeln sich im Netzwerk: Es ist nichtlokal und widersprüchlich. Wie widersprüchlich, ja mitunter völlig irre, zeigen ein paar Ministorys aus dem Buch.

Das Kapitel „Klima“ etwa beginnt er mit einem YouTube-Video, das einen Mann zeigt, der über den auftauenden Permafrostboden der sibirischen Tundra läuft. Der splittert tatsächlich auf und sieht in einem Satellitenbild aus wie Gehirngewebe bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Selbst in Svalbard, wo der Global Seed Vault steht, die globale Gendatenbank, wird es eng. Der DNS-Tresor sollte jahrhundertelang im Dauerfrost durchhalten, nun steht schon Schmelzwasser vor seiner Tresortür. Den Klimawandel angesichts solcher Tatsachen zu leugnen, ist lächerlich. Bridle zeigt auch, dass die Computer sowohl Opfer (die heißeren Temperaturen lassen Rechner schneller ausfallen) als auch Mitverursacher sind: Die globalen Rechenzentren verbrauchen inzwischen mehr Strom als Großbritannien, und wer wöchentlich nur eine Stunde lang Videos streamt, verbraucht in rechnerfernen Netzwerken pro Jahr so viel Energie wie zwei Kühlschränke. Corona und seine Milliarden Videokonferenzen lassen grüßen. Und auch wenn mich die CO2-Logik nicht überzeugt, so ist es doch angesichts steigender atmosphärischer Werte interessant zu wissen, dass bei einer weiteren Verdopplung des derzeitigen CO2-Gehalts in der Luft unsere kognitiven Fähigkeiten um 20 Prozent sinken werden. Viel Spaß dann auch beim Rückatmen Ihres eigenen Kohlendioxids durch die Maske.

Oder nehmen wir das Thema Hochfrequenzhandel im Kapitel „Komplexität“: Was Finanz­interessierte längst wissen, hat mich über Seiten psychotisch kichern lassen. Inzwischen wird ja ein Großteil des Börsenhandels über Algorithmen und KI getätigt, und da kommt es auf Sekundenbruchteile an, um Unsummen zu gewinnen oder zu verlieren. Daher haben die Unternehmen einen Vorteil, deren Datenzentren physisch näher an den Börsen sind – ihre Glasfaserkabel liefern die Millisekunden Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Das führt dann zu Algorithmen namens Ninja, Sniper und The Knife, die millionenfach am Tag Centbeträge erkämpfen, zu inoffiziellen Dark Pools, an denen ein Fünftel des globalen Aktienhandels getätigt wird, und zu Ereignissen wie dem „Flash Crash“ von 2010, bei dem innerhalb von 25 Minuten zwei Milliarden Aktien im Wert von 56 Milliarden Dollar den Besitzer wechselten. Die Motive der Algorithmen bleiben nach solchen Aktionen selbst für Experten so unklar wie die dahinterstehenden Akteure.

Diese zwielichtige Mischung aus Transparenz und Obskurität zieht sich auch durch die folgenden Kapitel, in denen es um KI, Geheimdienstoperationen und Verschwörungstheorien geht. Immer ist da das Händchen für die Geschichte, die sich einem einprägt, das Unfassbare der Moderne einfängt und die eigene Weltvorstellung dehnt, weshalb das Gähnen aus dem eher theoretischen ersten Kapitel nicht mehr zurückkehrte.

Bridle ist auch Künstler, und man kann hier ruhig von einem eigenen Genre sprechen. Ein „New noir“, das die Ambivalenz der Total­technisierung mit Bildern und Fakten zu greifen versucht und einen angesichts der Alternativ­losigkeit schaudernd im Infogewitter stehen lässt.

James Bridle
C. H. Beck

320 Seiten
ISBN: 978-3-406741-77-7
€ 25,–

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