Folgt man modernen Interpretationen von Platons Spätwerk „Timaios“ und dem daran anschließenden „Kritias“, beide in Dialogform, so hatte Atlantis seine Blütezeit etwa 10000 v. Chr., bevor es im Meer versank. Die beiden Dialoge weisen in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Platons Heimatstadt Athen sich damals im Krieg mit Atlantis befand. Heutige Historiker halten jedoch dagegen, dass die Mykener der vorgriechischen Ära die Gegend um Athen erst 1700 v. Chr. besiedelt hätten.
Dadurch entsteht eine Diskrepanz von rund 8.000 Jahren, eine unerklärliche Lücke in Kultur, Sprache und Geschichtsschreibung, die eine größere Zeitspanne umfasst als alle heute verfügbaren historischen Aufzeichnungen. Könnten jene urgeschichtlichen „Athener“, die vor 12.000 Jahren gegen Atlantis Krieg geführt haben, vollständig vom Erdboden verschwunden und rund 8.000 Jahre später als mykenische Siedlung wiederaufgetauchtsein – ohne jeden Hinweis darauf, dass diese Kultur über die Jahrtausende fortbestand? Dieses Szenario klingt sehr unwahrscheinlich, genauso unwahrscheinlich wie der wirklichkeitsgetreue Erhalt detaillierter Erinnerungen an ein versunkenes Land über einen derart langen Zeitraum, ob mit oder ohne kontinuierliche Zivilisation. Setzen Sie hier zum Vergleich die Erläuterungen dieses Artikels an, die zeigen, wie radikal nur ein paar wenige Jahrhunderte eines „dunklen Zeitalters“ die Erinnerung an die alten Griechen selbst radikal verändert haben.
All diesen Gegenargumenten zum Trotz stimmt die Datierung auf etwa 10000 v. Chr. mit dem Zeitraum überein, den heutige Geologen für den Übergang der letzten Eiszeit in die Jüngere Trias und den damit verbundenen apokalyptischen Anstieg des Meeresspiegels ansetzen. Es mag purer Zufall sein, dass die in Platons Werken erwähnte Zeitspanne und das zugehörige Ereignis ziemlich exakt mit einer weltweiten Flutkatastrophe übereinstimmen, die Geologen zufolge tiefer gelegene Regionen im Meer versinken ließ. Diese Übereinstimmung ist allerdings auffällig zufällig. Und falls es kein Zufall ist: Wie konnte diese Information 8.000 Jahre überdauern, ohne dass in diesem Zeitraum irgendeine erkennbare Form von Zivilisation in den schriftlichen Aufzeichnungen oder archäologischen Fundstücken auszumachen ist? Kann tatsächlich derart alte Geschichte im „Timaios“ erhalten worden sein oder gibt es eine andere Erklärung für diesen Umstand?
Der französische Philosoph Marc Bloch stellte zur Diskussion, dass Historiker die Vergangenheit am besten verstehen könnten, wenn sie mit den Orten, Menschen und Dingen begännen, die ihnen am nächsten und vertrautesten sind, denn „die natürliche Richtung der Forschung ist vom am besten Erforschten (oder am wenigsten Unerforschten) hin zum Unbekannten und Verborgenen“. Für Historiker meint das typischerweise von der Gegenwart in die Vergangenheit.1
Dieser Ansatz ist besonders hilfreich bei Texten wie dem „Timaios“, da es nur wenige andere alte Quellen gibt, von denen wir „historische“ Informationen über Atlantis bekommen. Die ältesten erhaltenen Manuskripte des „Timaios“ stammen (wie anscheinend alle antiken Texte) aus dem Mittelalter und es ist anzunehmen, dass es sich dabei um Kopien der Übersetzung von Kopien handelt.
Eine Untersuchung des „Timaios“ führt uns daher von der Moderne zurück zum Scheideweg zwischen Fakt und Fiktion urgeschichtlicher Naturkatastrophen, zu einem Punkt, der von der Universität Notre Dame „Scheidewege aller Dinge“ genannt wird: dem Ende des Mittelalters und der Geburt unserer modernen Welt mit dem Beginn der Renaissance.
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