Tödliche Psychiatrie: Wahrheiten, Mythen und Trugschlüsse

PsychDie Diagnose psychischer Störungen beruht auf fragwürdigen Kriterien – und die psychiatrische Behandlung erfordert fast immer wenigstens ein gefährliches Medikament aus der Hausapotheke der großen Pharmakonzerne. Die epidemische Einnahme von Psychopharmaka geht wiederum einher mit einer besorgniserregenden Zunahme von Krankheiten und einer höheren Sterberate.

Dies ist eine sehr bedauerliche Entwicklung. Schwere psychische Erkrankungen haben oft mit vorangegangenen Traumata zu tun, und Probleme im Kindesalter verdreifachen das Risiko, eine Psychose zu entwickeln. Wenn ein Arzt die Krankengeschichte des Patienten nicht aufdeckt (was ein zeitaufwendiger Vorgang ist), dann wird auch die verordnete Behandlung in den meisten Fällen relativ wirkungslos sein.

Geistig Gesunde an geisteskranken Orten

Meine Bedenken zum Thema der psychiatrischen Diagnosen sind keineswegs übertrieben. Es handelt sich um eines der größten Probleme der Psychiatrie, dass dort Diagnosen oft überraschend schnell gestellt werden. So kann es zum Beispiel ziemlich riskant sein, wenn ein Patient erwähnt, dass er Stimmen hört.

Im Jahr 1973 erschien der mittlerweile zu Berühmtheit gelangte Artikel „On being sane in insane places“ [dt. etwa: „Über geistig Gesunde an geisteskranken Orten“] des Psychologen David L. Rosenhan in der Fachzeitschrift Science. Rosenhan beschrieb darin, wie er und sieben andere gesunde Menschen in psychiatrischen Anstalten aufgetaucht waren und dort angegeben hatten, Stimmen zu hören. Ihre Aufgabe bestand dann darin, aus eigener Kraft wieder für ihre Entlassung zu sorgen, indem sie die medizinische Belegschaft davon überzeugten, dass sie geistig gesund waren. Sobald sie eingewiesen worden waren, hörten sie damit auf Symptome zu simulieren und verhielten sich völlig normal. Trotzdem mussten sie im Durchschnitt 19 Tage lang auf der jeweiligen Station verbleiben (bei Rosenhan selbst dauerte es zwei Monate, bis er entlassen wurde) und bekamen Medikamente verordnet, die sie zum Großteil heimlich entsorgten – insgesamt 2.100 Tabletten aller Art, obwohl die Pseudopatienten alle dasselbe vermeintliche Symptom aufwiesen bzw. angegeben hatten. Alle acht wurden mit der Diagnose Schizophrenie in Remission entlassen, obwohl ihr einziges Symptom das Stimmenhören gewesen war, das durchaus auch bei völlig normalen Menschen auftreten kann.

Viele der echten Patienten hatten den Verdacht, dass die Pseudopatienten in Wahrheit gesund waren; nur dem medizinischen Personal fiel nichts dergleichen auf. Dies verdeutlicht eine entscheidende Tendenz beim diagnostizieren: Ist eine Diagnose erst einmal gestellt, wird man sie nur schwer wieder los und wird abgestempelt. Rosenhan erklärte, dass diese Etikettierung so stark war, dass viele der normalen Verhaltensweisen der Pseudopatienten vom medizinischen Personal einfach übersehen oder völlig falsch interpretiert wurden, um sie einer weitverbreiteten Theorie über die Dynamik einer schizophrenen Reaktion anzupassen.

Die Pseudopatienten machten sich Notizen und konnten beobachten, dass das Verhalten der Patienten vom medizinischen Personal oft falsch interpretiert wurde. Wenn ein Patient „durchdrehte“, nachdem er von einem Betreuer misshandelt worden war, stellte das Pflegepersonal nur selten Fragen, sondern nahm einfach an, dass die Aufregung auf seine Symptomatik oder einen vor Kurzem stattgefundenen Besuch von Angehörigen zurückzuführen war. Von der Belegschaft kam nie jemand auf die Idee, dass einer von ihnen oder die Struktur des Krankenhauses für das Verhalten des Patienten verantwortlich sein könnte.

Rosenhan beschrieb in seinem Artikel, dass sich die Machtlosigkeit der Patienten in praktisch jeder Hinsicht zeigte. Ihnen wurden viele ihrer gesetzlichen Rechte entzogen und sie waren durch ihre psychiatrische Diagnose jeder Glaubwürdigkeit beraubt. Die Pseudopatienten konnten auch missbräuchliches Verhalten vonseiten des Pflegepersonals beobachten, das sofort beendet wurde, wenn sich andere Mitglieder der Belegschaft näherten. Mitarbeiter der Anstalten galten als glaubwürdige Zeugen, Patienten hingegen nicht.

Daraus zog der Autor den Schluss, dass sich in psychiatrischen Krankenhäusern die geistig gesunden nicht von den geisteskranken Insassen unterscheiden lassen. Er stellte die Frage, wie viele geistig gesunde Menschen in unseren psychiatrischen Institutionen falsch diagnostiziert werden – und ob nicht vielleicht viele Patienten, die außerhalb einer psychiatrischen Einrichtung gesund sind, in einem Krankenhaus geisteskrank wirken, weil sie auf das dort herrschende bizarre Umfeld reagieren.

Bei sehr vielen Menschen wird beispielsweise fälschlich eine Schizophrenie diagnostiziert. Eine Studie aus dem Jahr 1982 ergab, dass zwei Drittel von 1.023 beobachteten Afroamerikanern mit einer Schizophreniediagnose nicht die Symptome aufwiesen, die den aktuellen Richtlinien zufolge für eine solche Diagnose erforderlich sind. Im Jahr 1985 überprüfte der psychiatrische Leiter des Manhattan State Hospital die Krankenakten von 89 schizophrenen Patienten und stellte fest, dass die Diagnose nur auf 16 dieser Menschen zutraf.

Dass eine Schizophrenie vielfach falsch diagnostiziert wird, ist gar nicht so merkwürdig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Psychiatrie unterscheidet sich eben sehr stark von anderen medizinischen Fachbereichen, weil normale Menschen ähnliche Symptome und Gefühle aufweisen können wie psychiatrische Patienten. In den meisten Fällen geht es nur um graduelle Unterschiede; das gilt auch für die Schizophrenie. Eine Psychose ist keine biologische Erkrankung wie Arthritis, und viele normale Menschen können von Zeit zu Zeit psychotische Erfahrungen machen – inklusive Wahnvorstellungen und Halluzinationen .

Es werde Störung!

„Und das DSM sprach: Es werde Störung!“

Das DSM-IV der American Psychiatric Association (APA) versucht sich an der Definition einer psychischen Störung. Ich habe einige der problematischeren Stellen in dieser Definition im folgenden Textauszug kursiv markiert:

„[…] ein klinisch signifikantes Verhaltens- oder psychologisches Syndrom oder Muster, das bei einer Person auftritt und mit einem erkennbaren Disstress (d. h. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (d. h. der Störung eines wichtigen Funktionsbereichs oder mehrerer Funktionsbereiche) oder mit einem deutlich erhöhten Risiko des Ablebens, von Schmerzen, Behinderungen oder einem wesentlichen Verlust der Freiheit in Verbindung gebracht wird. Zusätzlich darf dieses Syndrom oder Muster nicht lediglich eine vorhersehbare oder kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis sein, z. B. den Tod eines geliebten Menschen. Welche Ursache es auch immer hat – es muss gegenwärtig alsAusdruck einer Störung im Verhalten, der psychologischen oder biologischen Befindlichkeit der betreffenden Person angesehen werden. Weder abweichendes Verhalten […] noch Konflikte, die in erster Linie zwischen der Person und der Gesellschaft bestehen, sind als psychische Störungen zu betrachten, wenn dieses abweichende Verhalten oder der Konflikt nicht die Folge einer Funktionsstörung in der Person ist […].“

Diese Definition ist extrem dehnbar und enthält zudem viele Werturteile, die auch den Ausprägungsgrad der erwähnten Phänomene betreffen. Die dadurch entstehende Unklarheit kann zu grundverschiedenen Diagnosen führen, wenn Psychiater unabhängig voneinander beurteilen sollen, ob eine bestimmte Person an einer psychischen Erkrankung leidet – und wenn ja, an welcher.

Es ist faktisch unmöglich, mit all diesen Mehrdeutigkeiten und subjektiven Beurteilungen ein funktionierendes System einzurichten. Dabei wäre es so einfach, eine neue, aussagekräftigere und solidere Definition zu finden. Das DSM ist jedoch ein Konsensdokument, dessen Diagnosen unwissenschaftlich und willkürlich sind. Echte Wissenschaften entscheiden nicht derart beliebig über die Existenz und Art der Phänomene, mit denen sie sich befassen, und tun dies vor allem ohne Eigeninteresse und finanzielle Förderung durch Pharmakonzerne.

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