Tödliche Psychiatrie: Wahrheiten, Mythen und Trugschlüsse

PsychDie Diagnose psychischer Störungen beruht auf fragwürdigen Kriterien – und die psychiatrische Behandlung erfordert fast immer wenigstens ein gefährliches Medikament aus der Hausapotheke der großen Pharmakonzerne. Die epidemische Einnahme von Psychopharmaka geht wiederum einher mit einer besorgniserregenden Zunahme von Krankheiten und einer höheren Sterberate.

Die angebliche Verlässlichkeit des neuen und ausführlichen Checklistensystems im 1980 erschienenen DSM-III [= 3. Aufl.] wurde 1992 im Buch „The Selling of DSM“ auf überzeugende Art widerlegt. Die enttäuschenden Resultate einer psychiatrischen Abklärung an denselben Versuchspersonen durch zwei verschiedene Psychiater wurden in überraschend kurzen Artikeln schöngeredet. Die Originaldokumente sind zwar schwer zu finden, aber das Buch enthält ohnehin alles, was man wissen muss. Die zwei Autoren leisteten hervorragende Arbeit, indem sie dieses Thema – über das kein APA-Mitglied gern redet – so ausführlich behandelten. Sogar die bisher größte Studie an 592 Menschen erbrachte nur enttäuschende Ergebnisse, obwohl die Studienleiter sich bemühten, die Gutachter entsprechend auszubilden.

Neuro

Da wir nicht mit Bestimmtheit sagen können, was eine psychische Störung eigentlich ist, könnten wir die anerkannten Diagnoseverfahren ja auf gesunde Menschen anwenden, um zu sehen, ob auch sie psychiatrische Diagnosen erhalten. Das ist tatsächlich der Fall. Ich habe für dieses Experiment PsychCentral.com aufgesucht – eine umfangreiche Website, die von neutralen Beobachtern sehr gelobt wird und auch schon einige Auszeichnungen erhalten hat.18 Wir waren acht Versuchspersonen – normale und beruflich erfolgreiche Menschen. Jeder von uns füllte die Tests für Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Manie aus; und keiner bestand alle drei Tests als „gesunder Mensch“. Zwei von uns litten an Depression, vier mit Sicherheit, höherer oder weniger hoher Wahrscheinlichkeit an ADHS. Und ganze sieben wiesen eine Manie auf. Einer davon sollte sich laut Testergebnis umgehend in Behandlung begeben, drei Personen hatten angeblich eine mittelschwere bis schwere Manie, die anderen drei eine schwächere Ausprägung dieser Geistesstörung. Auch andere können diese erstaunlichen Resultate bestätigen – und das deutet doch sehr darauf hin, dass jedem von uns irgendwann einmal die eine oder andere psychiatrische Diagnose bevorsteht. Da verwundert es auch nicht mehr, dass ein Viertel aller Therapeuten, die man ersucht hatte, gesunde Menschen nach DSM-Kriterien zu beurteilen, eine psychiatrische Diagnose erstellten.

Das DSM-III aus dem Jahr 1980 wurde 1994 vom DSM-IV abgelöst, das noch wesentlich schlimmer ist als sein Vorgänger und 26 Prozent mehr Formen der Geisteskrankheit anführt. Allen Frances, der Vorsitzende der DSM-IV-Arbeitsgruppe, ist heute der Ansicht, dass die Verantwortung für die Definition psychiatrischer Erkrankungen nicht länger bei der AMA liegen sollte – und er behauptet, dass neue Diagnosen ebenso gefährlich seien wie neue Medikamente. Frances merkte an, dass das DSM-IV drei falsche Epidemien hervorrief, weil die diagnostischen Kriterien einfach zu breit angelegt waren: ADHS, Autismus und bipolare Störungen bei Kindern.

In den USA verabreicht man einem Prozent aller Kinder unter vier Jahren Psychopharmaka, obwohl gerade die ersten drei Lebensjahre entscheidend für die Entwicklung des Nervensystems sind.22 Etwa ein Viertel aller amerikanischen Kinder, die an Sommerlagern teilnehmen, werden gegen ADHS, Gemütsstörungen und andere psychische Probleme medikamentös behandelt.

Dabei sind nicht unsere Kinder irregeworden, sondern die Psychiatrie. Manche Kinderpsychiater geben damit an, dass sie in weniger als 20 Minuten eine Erstbeurteilung eines Kindes abgeben und ein Medikament verschreiben können; bei etlichen Kinderärzten reduziert sich diese Zeitspanne auf fünf Minuten.

Woran liegt es bloß, dass führende Psychiater nicht genug bekommen können? Ist dieses Verhalten nicht derart bizarr, abnormal, Zeichen einer sozialen Funktionsstörung und zudem schädlich für andere, dass man der Denkweise besagter Psychiater zufolge eigentlich sofort eine Diagnose dafür erfinden müsste? Eine geeignete Bezeichnung wäre vielleicht „zwanghafte Krankheitserfindungsstörung“ oder „offensichtlicher allgemeiner Wunsch nach geldbringenden Diagnosen“. Die diagnostischen Kriterien könnten das Auftreten dieser Störung über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten beinhalten, wobei mindestens fünf der folgenden Phänomene auftreten müssen:

  1. stand innerhalb der letzten drei Jahre auf der Gehaltsliste der Pharmabranche;
  2. ist bereit, von Ghostwritern erstellte Manuskripte mit seinem Namen zu unterzeichnen;
  3. glaubt daran, dass das Stellen einer Diagnose niemandem schaden kann;
  4. glaubt auch, dass eine gründliche Untersuchung nichts schaden kann, weil Medikamente ohnehin keine Nebenwirkungen haben;
  5. glaubt zudem, dass Menschen mit psychiatrischen Störungen ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn haben;
  6. erzählt seinen Patienten, dass Psychopharmaka wie Insulin gegen Diabetes wirken;
  7. glaubt, dass Depression und Schizophrenie das Gehirn zerstören und nur Medikamente dagegen helfen können;
  8. glaubt, dass Antidepressiva Kinder vor Selbstmord schützen;
  9. ist davon überzeugt, dass die Informationen von Pharmafirmen nützlich sind.

Ich habe Psychiater kennengelernt, auf die alle neun Kriterien zutreffen. Natürlich bin ich gegen jede Art der Zwangsbehandlung, doch ich würde alle Ärzte, die an zwanghafter Krankheitserfindungsstörung leiden, zumindest zwangspensionieren, damit sie anderen keinen Schaden mehr zufügen können.

Vielleicht glauben Sie jetzt, dass ich der Psychiatrie gegenüber unfair bin, aber die von mir angeführten Diagnosekriterien sind in Wahrheit wesentlich vernünftiger als die im DSM-III aufgelisteten Kriterien für „Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten“ bei Kindern. Die dazu im DSM genannten Kriterien sind absolut subjektiv und willkürlich – und enthalten alle das Wort „oft“. Aber wie oft ist oft? Auf viele Kinder treffen alle neun angeführten Kriterien zu, dabei reichen schon fünf für eine Diagnose aus. Aber zu welchem Zweck? Meiner Ansicht nach sind diese Verhaltensweisen im Kindesalter ziemlich normal.

Sicher spielen bei diesen unsinnigen Diagnosen auch Naivität, Unwissenheit und der Wunsch, Gutes zu tun, eine Rolle … aber die Angelegenheit hat auch eine dunkle Seite. Bei vielen der Fachleute, die am DSM mitarbeiten (das DSM-5 ist übrigens 2013 erschienen), bestehen wegen ihrer Beziehung zur Pharmabranche starke Interessenkonflikte; zudem erhoffen sich die Verantwortlichen Geld, Macht und Ruhm, wenn sie möglichst viele neue Diagnosen erfinden. Wahrscheinlich geht es ihnen auch darum, die Kontrolle über andere auszuüben; ein Wunsch, der ein wichtiger Teil unseres genetischen Erbes ist. Wer Diagnosen über andere Menschen erstellt, hält damit ein mächtiges Instrument in den Händen, das die Patienten davon abhängig macht, was ihre Psychiater denken und fühlen. So viel Macht führt automatisch zu Missbrauch. Manche Psychiater können nicht einmal der Versuchung widerstehen, ihr Gegenüber in öffentlichen Diskussionen mit Diagnosen wie „paranoid“ zu belegen.

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