Abschied vom Schulzwang

Homeschooling ist in ganz Europa (sowie allen anglophonen Ländern weltweit) grundsätzlich erlaubt – nur Deutschland leistet sich bisher eine Kriminalisierung engagierter Eltern

BRD: Schutz der Familie

In der jungen Bundesrepublik ging man einen anderen Weg: Neben einer Rückbesinnung auf christlich-abendländische Werte wurde erstens der Schutz der Familie ins Zentrum gestellt und zweitens, wie auch beim Polizeiwesen, das Heil in einer Föderalisierung der Strukturen und Machtbefugnisse gesucht: Bildungshoheit der Länder. Der Vorrang der Familie wurde im Grundgesetz ebenso verankert wie die staatliche „Aufsicht über das Schulwesen“. Auch das Nazi-Verbot für Privatschulen wurde wieder aufgehoben, allerdings mit strengen Kontrollen. Die Möglichkeit der freien Bildung zu Hause findet weder im Grundgesetz noch sonst irgendwo Erwähnung. Eigentlich erstaunlich, denn der erste Bundeskanzler der jungen Demokratie, Konrad Adenauer, hatte sich ebenso zu Hause gebildet (1896 Abitur als „Externer“) wie der vielgeehrte Widerstandskämpfer und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer und seine Geschwister, die alle in der Grundschulzeit von ihrer Mutter unterrichtet worden waren. Heute gibt die fehlende Erwähnung den Familien in Deutschland, die ihre Kinder zu Hause lernen lassen möchten, Mut zum Kämpfen, denn immerhin ist die Bildung zu Hause nicht verboten, es heißt lediglich, dem Staat obliege die Aufsicht über das Schulwesen.3

Nicht mehr selber kochen?

Aber was bedeutet das? Daß öffentliche Einrichtungen beaufsichtigt und reglementiert werden müssen, ist klar; so hat der Staat auch genaue Vorschriften für die Nahrungszubereitung in öffentlichen Beköstigungsbetrieben erlassen, ob staatlich (Kantinen, Schulspeisung) oder privat (Gaststätten). Daraus abzuleiten, man dürfe zu Hause nicht mehr selbst kochen, sondern sich nur noch „öffentlich“ sättigen, weil nur so eine gleiche Ernährungsqualität für alle und das Grundrecht auf angemessene Nahrung gewährleistet sei, erscheint aber trotzdem den meisten unter uns als unverhältnismäßiger Eingriff in die persönliche Freiheit.

Die alten Demokratien und Skandinavien

In den anderen Ländern rund um Deutschland und weltweit hat indessen eine ganz andere Entwicklung des Bildungssystems stattgefunden. Länder mit einer langen demokratischen Tradition wie England, Irland und Kanada boten schon immer ganz selbstverständlich das Recht auf freie Wahl der Bildungsform. Von dem Recht, die eigenen Kinder selbst zu unterrichten, wurde und wird in diesen Ländern in dem Maße zunehmend Gebrauch gemacht, wie Informationen, Lehrmittel und Wissen immer mehr jedem einzelnen problemlos zur Verfügung stehen. Neben den öffentlichen Bibliotheken, Tageszeitungen und der Vielzahl an Zeitschriften hat hier natürlich das Internet eine weitere rasante Revolutionierung und einen raschen Anstieg der Home Education gebracht. In den USA setzte in den siebziger Jahren, initiiert von Reformpädagogen wie John Holt4, Pat Farenga5, Pat Montgomery6 und Grace Llewellynn7 die interessanterweise oft selbst Lehrer waren, ein Kampf um das Recht auf Home Education ein. Inzwischen ist Bildung ohne Schulbesuch in allen Staaten der USA erlaubt. In Skandinavien setzten sich Anfang der neunziger Jahre Eltern für ihr Recht ein, ihren Kinder selbstbestimmte Bildung zu ermöglichen. Nach einigen Musterprozessen ist inzwischen Home Education in ganz Skandinavien offiziell erlaubt.

Bildungsfreiheit in Osteuropa

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es auch hier Bemühungen, das gleichgeschaltete Schulwesen durch Vielfalt zu beleben. In Rußland wie in Kanada erhalten Eltern heute sogar finanzielle Aufwandsentschädigungen, in Tschechien wurde nach einem Pilotversuch ab 1999 die Bildung zu Hause 2005 in den Kanon der Möglichkeiten aufgenommen.

Derzeit versuchen europaweit nur noch Deutschland, Slowakei, Rumänien und Bulgarien, Kinder gewaltsam zum Schulbesuch zu zwingen; allerdings sind die Regelungen in den anderen Ländern sehr unterschiedlich und reichen von völliger, von verfassungsrechtlich garantierter Freiheit (Irland) bis hin zu rigiden Bedingungen und Einschränkungen: So wird von Eltern im Schweizer Kanton Zürich neuerdings eine dreijährige pädagogische Ausbildung verlangt.

Was ist „Homeschooling“?

Aber was ist diese „Home Education“ überhaupt, und warum ist sie manchen Familien so wichtig, daß sie Bußgelder, Zwangsgelder, Erzwingungshaft in Kauf nehmen, Sorgerechtsentzug riskieren und letztlich in gar nicht so geringer Zahl sogar Deutschland verlassen?8

Diese Frage läßt sich nicht einheitlich beantworten, denn die reale Umsetzung der Bildung zu Hause ist so vielfältig, wie die Art zu kochen in jeder Familie anders ist. Zwei Hauptpole sind derzeit zu beobachten: Manche Familien führen am Küchentisch jahrgangsübergreifenden Unterricht in Kleinstklassen durch, benutzen Schulbücher, feste Zeiten und Methoden wie in der Schule (was immer das heißt, denn auch da gibt es ja keine Einheitlichkeit). Die Ergebnisse sind exzellent und liegen weit über dem Schul-Durchschnitt.

„Unschooling“ – Informelles Lernen

Andere verlassen sich mehr auf ihre Intuition und das Wissen über „informelles Lernen“, das Gehirnforscher, Entwicklungspsychologen und sonstige Experten seit Jahrzehnten zur Verfügung stellen. Die Essenz ihrer Forschungsergebnisse läßt sich sehr schlicht zusammenfassen: Kinder folgen in ihrer Entwicklung einem inneren Plan, sie wollen lernen, genauso wie sie laufen, sprechen und Fahrrad fahren lernen wollen. Man muß sie dazu genauso wenig zwingen wie zum Essen, sondern ihnen nur eine reichhaltige, vernünftige Auswahl an Möglichkeiten und Unterstützung bieten. Dann erfolgt das Lernen ohne jeden Druck und Zwang, allerdings in einer Reihenfolge und auf Wegen, die eher selten dem im Lehrplan vorgesehenen Ablauf folgen, sondern gleichsam nebenbei. Wer jemals ein Kind dabei beobachtet hat, wie es (ohne Stundenplan, Hausaufgaben und Zensuren) Stehen oder Sprechen lernte, kennt diesen Prozeß.9

Unser Leben ist Lernen10

Kinder, die so ihrem innersten Interesse folgen dürfen, haben alles, was sie lernen, jederzeit zur Benutzung verfügbar und können es im Leben selbst anwenden. Denn sie haben es auch selbst gelernt. Solche Kinder wollen verstehen, wie Lesen geht, weil sie endlich all die Geschichten im Regal zugänglich haben wollen, auch wenn die Eltern keine Zeit zum Vorlesen haben. Sie verstehen, wie Prozentrechnung geht, weil sie „ihren Stammkunden“ einen Rabatt für Selbstgemachtes anbieten wollen; sie lernen schreiben, indem sie einen Wunschzettel für ihren Geburtstag zusammenstellen, Kontakt mit einem geliebten Onkel aufnehmen oder an die Bundeskanzlerin schreiben wollen. Sie merken sich die Hauptstädte aller europäischen Länder, weil sie mit ihrem kleinen Bruder das Quiz von „Wer wird Millionär?“ nachspielen, und die Hauptstädte aller Länder weltweit, anläßlich der Fußballweltmeisterschaft. Sie erfahren Interessantes über Geschichte, Geographie, Biologie und Chemie aus Gesprächen am Mittagstisch, indem sie im Brockhaus oder bei Wikipedia nachlesen oder mit Google-Earth spielen. Sie erwerben sich PC-Kenntnisse, um mit Freunden und Verwandten zu mailen oder alles über Shakira herauszufinden. Sie lernen sich durchzusetzen, indem sie beim Einkaufen das Wechselgeld prüfen und sich trauen, auf Fehler hinzuweisen; sie lernen, sich einzufügen und Rücksicht zu nehmen, während sie sich im Fußballverein, beim Schachspielen, im Yu-Gi-Oh-Fanclub mit anderen Kindern auseinandersetzen. Sie lernen Englisch, weil sie die Beatles-Texte verstehen und Harry Potter-Filme mit der Originalstimme von Daniel Radcliffe genießen wollen …

All diese Beispiele sind authentisch und stammen entweder von meinen eigenen Kindern oder ihren ebenfalls zu Hause lernenden Freunden. Dieses aktive, eigenständige Lernen mag den Eltern mancher genervter, gestreßter, desinteressierter „Kids“ als utopische Spinnerei erscheinen – aber denken Sie mal zurück an Ihre enthusiastischen, hochaktiven, Löcher-in-den-Bauch-fragenden Kleinkinder, die Sie ständig davon abhalten mußten, die Welt noch intensiver und risikobereiter zu erkunden. Wir haben bloß verlernt, aktives Lernen dort zu erkennen, wo es stattfindet – und viele Kinder verlernen das Forschen aus eigenem Interesse nachweislich während des ersten Schuljahres, wenn nicht schon im Kindergarten.11

Kommentare

15. Januar 2014, 12:53 Uhr, permalink

Markus Harding

Hervorragender Artikel, spricht mir aus dem Herzen. Unsere 4 Kinder waren oder sind alle auf einer (christlichen) Privatschule.
Man stelle folgende Tatsachen mal in einen Zusammenhang:
1. Bereits unter U. v. d. Leyen hat die BZGA eine Broschüre für Erzieher herausgegeben, in der Ratschläge für die sexuelle Erziehung von Kindern ab 1 Jahr (!) gegeben werden. Suchen Sie mal danach und lesen Sie das in Ruhe durch, Sie werden Augen machen!
2. Die grüne Landesregierung von B-W möchte ab 2015 fächerübergreifend und über alle Klassen die "Akzeptanz" von Homosexualität und anderen Sonderformen fördern. Nicht mehr "Toleranz" (=Duldung) sondern Akzeptanz (=gutheißen).
3. Unsere neue "Familien"-Ministerin Schwesig ist der Meinung, daß das Betreuungsgeld, von ihr und anderen abfällig als "Herdprämie" geschmäht, nur eine Belohnung dafür sei, die "Kinder der Bildung zu entziehen". Welcher Bildung ab dem Alter von 6 Monaten?
4. Wissen Sie, daß ein KiTa-Platz je Kind und Monat ca. € 1000,- kostet?
Warum es ist dem Staat so wichtig unsere Kinder möglichst früh zu haben? Wozu will er sie erziehen? Warum nimmte er solche Kosten auf sich und droht Verweigerern sogar mit Strafen? Ist es verwunderlich da die Tradition aus den späten 30er Jahren fortgeführt zu sehen?

01. Oktober 2014, 17:26 Uhr, permalink

Franz Josef Neffe

Mich erstaunt es immer wieder, das immer noch alle auf so ein plumpes Ablenkungsmanöver hereinfallen und sich zum Schuldigen machen lassen, wenn sie ihr Kind NICHT IN DAS GEGENTEIL VON SCHULE schicken.
SCHULPFLICHT braucht doch auch eine REALE GRUNDLAGE, und dazu gehört, dass eine SCHULE da ist, wo das Kind hin soll.
Die staatliche Schulaufsicht akzeptiert nicht, dass du dein Kind in eine Bäckerei, ins Cafe, in den Zoo oder in den Zirkus schickst - wiewohl dort in aller Regel bedeutend mehr SCHULE ist als in den jenen Unterrichtsvollzugsanstalten, die wir zum GEGENTEIL VON SCHULE gemacht haben.
In diesen Unterrichtsvollzugsanstalten werden nicht selten Kinder schon in der 1. Klasse von der Lehrerin gemobbt - ich erinnere an die 7jährige Sabrina, die nicht mehr leben wollte, weil sie täglich von ihrer Unterrichtsvollzugsbeauftragten vor der Klasse blamiert wurde.
Ich erinnere an die vielen massiven Probleme der Kinder untereinander, die oft über Jahre verschleppt werden, weil der UNTERRICHTSVOLLZUG immer vorgehen muss.
Selbst wenn Kinder verprügelt, genötigt, erpresst und auf jede denkbare Weise gepeinigt und gedemütigt werden, müssen sie in UNTERRICHTSVOLLZUGSANSTALTEN - NICHT IN SCHULEN.
Und wir alle lassen uns jeden tag diese Mogelpackung andrehen.
Warum verlangen wir nicht endlich WIRKLICHE SCHULEN für unsere Kinder?
Wer von den Tätern wie von den Opfern weiß denn überhaupt noch, was das Wort SCHULE bedeutet und was eine SCHULE ist???
Wer sein Kind nicht in MISS-HANDLUNGS-ANSTALTEN schicken will, DER erfüllt doch das Gesetz über die SCHULpflicht.
Die Strafbefehle haben die zu bekommen, die SCHULE zu Zwangsanstalten machen und das Teilnehmen an Veranstaltungen, wo die - vom Grundgesetz geschützte - Menschenwürde verletzt wird, erzwingen wollen.
Es ist für niemanden hilfreich, wenn sich die Opfer zu Tätern machen lassen.
SCHULPFLICHT ohne SCHULEN, das geht nicht.
SCHULPFLICHT beginnt damit, dass für Kinder wirkliche SCHULEN zur Verfügung stehen müssen.
Da gibt es sehr viel zu tun, bis dieser Zustand auch nur halbwegs erreicht ist.
Wenn unsere "Schulen" nicht das Gegenteil von SCHULE wären, wäre Schulpflicht kein wirkliches Problem.
Freundlich grüßt
Franz Josef Neffe

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