Künstlicher Kalkstein: Mythos oder möglich?

Man nehme 100 Gramm Kalksteinpulver, ein paar Gramm Kaliumhydroxid-Flocken und etwas Wasser, vermische das Ganze, gieße es in eine Form und warte. Taadaa! Nach einer Woche ist der Kalkstein fertig. Geht nicht? Probieren Sie es. Der Italiener Marcell Fóti war neugierig und hat es getan. Die Ergebnisse seiner Experimente werfen ein neues Licht auf die Steinmonumente der alten Hochkulturen. Wurden die Granit- und Kalksteinblöcke von Pyramide & Co. etwa gegossen? Chemisch ist es definitiv möglich, und auch die Beobachtungen und Messungen vor Ort geben zu denken – wenn sie nicht als Beweis durchgehen. Ist damit ein oft beschworenes Rätsel der Vergangenheit gelöst?

Steine ließen sich zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit ohne Zuhilfenahme von Bindemitteln künstlich herstellen, das ist hinlänglich bekannt. Und doch bin ich neulich bei meinen Recherchen in Split – genauer gesagt im Keller des Diokletianspalastes – auf einen echten künstlichen Stein gestoßen. Die Beweise dafür möchte ich in diesem Artikel erläutern.

Der Ort des Geschehens liegt also in Split, Kroatien. Falls es Sie einmal dorthin verschlagen sollte, können Sie sich persönlich von meinen Beobachtungen überzeugen. Der Keller ist für Touristen zugänglich, und für gerade einmal acht Euro kann man dieses kleine Wunder bestaunen–obwohl nichts darauf hinweist, dass es sich hierbei um ein Wunder handelt. Kein Schild, keine Pfeile, nichts. Wozu sollte man auch die Aufmerksamkeit der Besucher auf ein simples Stück Kalkstein lenken?

Nun, es handelt sich dabei eben nicht um irgendeinen Kalkstein, sondern um einen künstlichen, von Menschenhand geschaffenen. Was doch eigentlich unmöglich sein sollte – oder etwa nicht?

Ich möchte Sie dazu einladen, meinen Gedankengängen zu folgen. Vielleicht ist es ja doch möglich. Vielleicht habe ich so etwas sogar in meinem eigenen Garten nachgebaut – mit greifbaren Ergebnissen.

Und ja, das Rezept teile ich gerne mit der Welt. Damit auch Sie in Ihrem eigenen Zuhause Wunder vollbringen können.

Aber zunächst Butter bei die Fische: Der kleine Türsturz im Diokletianspalast in Abbildung 1 ist aus künstlichem Kalkstein gemacht.

türsturz

Abb. 1: Türsturz aus Kalkstein im Diokletianspalast, Split (Bild: Fóti)

Woher ich das weiß? Ganz einfach: Die Risse verraten es. Das sind nicht die üblichen Spannungsrisse, die durch Belastung entstehen (dieser Stein wird nämlich kaum belastet – er liegt ja über einem Hohlraum), sondern, gut aufgepasst: sogenannte Schrumpfrisse durch Austrocknung, auch Trockenrisse genannt.

Und genau die kommen bei natürlichem Kalkstein gar nicht vor. Kalkstein saugt kein Wasser auf, er wird nicht matschig und weich wie Lehm und demzufolge auch nicht wieder trocken und rissig. So ein Kalkstein existiert nicht, schon gar nicht im Dinarischen Gebirge, aus dem dieses Baumaterial stammt.

Dass Kalkstein sich anders als Lehm verhält, sieht man unter anderem an den unzähligen riesigen römischen Wasserzisternen, die genau deshalb aus Kalkstein errichtet wurden, weil er wasserdicht ist. Auch Istanbul ist voll von solchen monumentalen und wunderschönen römischen Kalksteinzisternen, die allein schon einen Besuch wert sind.

An dieser Stelle kommt dann oft der übliche Einwand: „Ja, ja, aber das ist bestimmt nur eine dünne Schicht obendrauf, eine spätere Ausbesserung …“ Nein, ist es nicht. Aber selbst wenn – dann wäre doch das genau der Punkt: Irgendjemand muss irgendwann diesen Stein mit einer künstlichen Kalksteinschicht überzogen haben. Was ebenfalls unmöglich sein sollte.

„Dann kam der Stein eben schon so aus dem Steinbruch. Mit Rissen“, würde der durchschnittliche Archäologe erwidern.

Na schön, von mir aus. Sagen wir, dieser Kalkstein ist nach seiner Entstehung auf dem Meeresgrund zu früh – also noch im weichen Zustand – an Land gelangt und genau dort erhärtet. Für eine solche Rissbildung muss das Material austrocknen, daran ist nicht zu rütteln. Also wurde der Stein vor ein paar Millionen Jahren weich ans Ufer gespült. Das kommt doch schon mal vor, oder?

Nein, tut es nicht.

Schauen wir uns den Stein des Anstoßes doch einmal von unten an – nämlich in Abbildung 2.

Nicht vergessen: Wir sprechen hier von einem Türsturz – also einem Stein, der über eine Türöffnung gelegt wurde. Und jetzt kommt die Eine-Million-Euro-Frage. Bereit?

Gibt es irgendeinen königlichen Steinmetz mit einem Funken Verstand, der einen derart miserablen, komplett rissigen Stein in einem Türsturz verbauen würde?

Hier sollte jeder ohne Publikums- oder Telefonjoker alles darauf setzen, dass die Wahrscheinlichkeit für diesen Fall exakt null Komma null Prozent beträgt.

Wenn Sie wirklich glauben, dass man aus allen verfügbaren Steinen ausgerechnet den schlechtesten genommen und in einem Palast verbaut hat, dann lesen Sie am besten gar nicht weiter. Vergebliche Liebesmüh.

Wenn wir davon ausgehen, dass ein verantwortungsvoller Steinmetz so etwas niemals tun würde, bleibt allerdings nur eine einzige logische Möglichkeit: Der Türsturz war beim Einbau völlig intakt und frei von Rissen. Daraus folgt unweigerlich: Die Risse sind erst später entstanden, nach dem Einbau, durch Schrumpfung beim Austrocknen. Und das ist bei natürlichem Kalkstein schlichtweg unmöglich.

Schachmatt. Was wir hier auf den Bildern sehen, muss ein Türsturz aus künstlichem Kalkstein sein, also aus einer Art uraltem Kalksteinbeton. Eine andere Erklärung ergibt keinen Sinn.

Aber wie ist das möglich? Künstliche Steine? Gibt es nicht, das würde jeder Experte und Archäologe felsenfest behaupten. Punkt.

Eine Einführung in die Welt der künstlichen Steine

Das sieht Joseph Davidovits, Erfinder künstlicher Steine und führender Wissenschaftler auf diesem Gebiet, der nun schon seit einem halben Jahrhundert an zementfreien Materialien forscht (sogenannten Geopolymeren, die den üblichen Beton ersetzen könnten), allerdings etwas anders.

schrumpfrisse

Abb. 2: Schrumpfrisse im Kalkstein (Bild: Fóti)

In Wahrheit ist künstlicher Stein nicht nur realisierbar, es gibt sogar mehr funktionierende Rezepte dafür als Sterne am Himmel. Wenn man es sich genau überlegt, kann es gar nicht anders sein. WasistStein denn eigentlich? Ein chemischer, bei Raumtemperatur fester Stoff. Warum sollte es nicht Abermilliarden verschiedener künstlicher chemischer Stoffe geben, die bei Raum­temperatur hart – vielleicht sogar sehr hart – sind?

Natürlich gibt es sie. Wir nennen sie nur nicht „Stein“, sondern zum Beispiel Glas, Keramik, Metall, Eis oder Würfelzucker. Gut, Würfelzucker ist nicht sonderlich wasserfest, und Eis hat ausgerechnet bei Raumtemperatur den falschen Aggregatzustand – aber das ist eine Frage der Praktikabilität, nicht des Konzepts an sich.

Zwischen bei Raumtemperatur festen Stoffen und sogenannten Steinen gibt es keinerlei fundamentalen Unterschied. Es sind einfach unterschiedliche Moleküle, die in irgendeinem dreidimensionalen Raum starr herumstehen.

Können wir einen solchen Stoff also selbst herstellen? Durchaus. Mehr noch: Davidovits hat festgestellt, dass man solche Materialien sogar aus völlig alltäglichen Substanzen zusammenmischen kann – aus Dingen, die auch den Steinmetzen in der Antike bereits zur Verfügung standen. Es ist also möglich, dass sie daraus betonartige Pampe zusammengerührt und verbaut haben.

Den ersten künstlichen Stein dieser Art hat Davidovits mit seinem Team vor über 20 Jahren angerührt, ausgehend von der simplen (aber wahren) Beobachtung, dass die Kalksteinblöcke der Cheopspyramide in Gizeh Salz enthalten müssen – da sie salzig schmecken. Also stellten sie selbst mehrere Tonnen schwere Kalksteinblöcke her, die bis heute Wind und Wetter trotzen. Menschengemacht. Haltbar.

„Natürlich ist da Salz drin, der Stein ist ja auf dem Meeresboden entstanden“, könnte der gut informierte Nörgler nun erwidern. Aber leider liegt er falsch. Zwar entsteht Kalkstein tatsächlich auf dem Meeresboden, aber Salz ist darin trotzdem nicht enthalten. Wollen Sie sich selbst davon überzeugen? Dann spazieren Sie einfach mal zu einer beliebigen mittelalterlichen Kathedrale und lecken Sie an der Wand. Schmeckt nicht salzig.

kalkstein zufall

Abb. 3: Zufälliger künstlicher Kalkstein (Bild: Fóti)

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Abb. 4: Kalksteinanzucht im Selbstversuch (Bild: Fóti)

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